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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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den Tischen vorbei, überwiegend junge Leute, doch die Fremden waren weit in der Überzahl.
    Diese Leute waren wirklich außergewöhnlich. Maya blickte in Gesichter, wie sie sie seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gesichter aus einer anderen Zeit. Krähenfüße, Altersflecken, ein Netzwerk von Falten. Ergraute Frauen, auf eine Art und Weise erschlafft, wie es eigentlich nicht mehr hätte vorkommen sollen. Patriarchische alte Männer in barbarischem Putz, deren Gesten stolz und sogar bedrohlich wirkten.
    Und die Kinder - haufenweise lärmende kleine Kinder. So viele Kinder an einem Ort zu sehen, war ausgesprochen ungewöhnlich. Und so viele Kinder aus einer einzigen ethnischen Gruppe an einem Ort versammelt zu sehen, war eine beispiellose Erfahrung.
    »Was sind das für Leute?«, fragte Maya.
    »[Das sind tsiganes.]«
    »Was?«
    »[Sie selbst bezeichnen sich als Roma.]«
    Maya tippte sich ans Ohr. »Das Wort hat der Übersetzer auch nicht verstanden.«
    Ulrich überlegte. »Das sind Zigeuner«, sagte er auf englisch. »Das ist ein großes Sammellager für europäische Zigeuner.«
    »Wow. So viele unbehandelte Leute auf einem Fleck habe ich noch nie gesehen. Ich wusste ja gar nicht, dass es noch so viele Zigeuner gibt auf der Welt.«
    Ulrich wechselte wieder ins Deutsche. »[Zigeuner sind gar nicht so selten. Man bemerkt sie bloß nicht. Die Roma haben ihre eigene Art des Umherreisens. Außerdem wissen sie, wie man sich versteckt. Diese Leute sind schon seit achthundert Jahren Ausgestoßene.]«
    »Weshalb haben sich die Zigeuner mittlerweile nicht angepasst?«
    »[Das ist eine interessante Frage]«, meinte Ulrich erfreut. »[Das habe ich mich auch schon häufiger gefragt. Wenn ich ein Zigeuner werden könnte, wüsste ich die Antwort, aber einen Gajo nehmen sie nicht bei sich auf. Wir sind nämlich beide Gajos, weißt du. Du bist Amerikanerin, und ich bin Deutscher, aber für diese Leute sind wir beide Gajos. Sie sind Nomaden, Ausgestoßene, Räuber, Taschendiebe, Betrüger, Anarchisten und dreckiges Lumpenproletariat, das weder Lebensverlängerung noch Geburtenkontrolle praktiziert!]« Ulrich musterte sie mit besitzergreifender Genugtuung, dann machte sein Lächeln tiefer Besorgnis Platz. »[Trotzdem sind all diese wunderbaren Eigenschaften noch längst kein Beweis dafür, dass es sich um romantische, wundervolle Menschen handelt.]«
    »Oh.«
    »[Wir wollen diesen Leuten Diebesgut verkaufen]«, rief Ulrich ihr in Erinnerung. »[Sie werden versuchen, uns übers Ohr zu hauen.]«
    Drei Roma mit einem Lamm kamen an ihnen vorbei. Sogleich bildete sich ein Auflauf gaffender Gajos. Maya vermochte den drängelnden Leuten nicht über die Schulter zu blicken, hörte aber das angstvolle Blöken des Lamms und das Aufstöhnen der Menge, gefolgt von lauten Jubelrufen und schockiertem Seufzen.
    »Die bringen das Tier ja um«, sagte sie.
    »[Ja, das tun sie. Und dann häuten sie es ab, nehmen es aus, stecken den Kadaver auf einen Spieß und braten ihn über einem Feuer.]«
    »Wozu?«
    Ulrich lächelte. »[Weil Lammbraten hervorragend schmeckt. Ein bisschen Lammfleisch würde dir auch nicht schaden.]« Er kniff die Augen zusammen. »[Wenn du das Tier isst, dann macht es dir nicht mehr so viel aus, dass du ein schmutziges Vergnügen bei seiner Schlachtung empfunden hast. Die Leute werden gut dafür bezahlen, ein Tier zu essen, bei dessen Tod sie zugegen waren.]«
    Am Fuße eines nahen Hügels bot ein Zigeuner akrobatische Vorführungen auf einem Motorrad dar. Das alte, unglaublich gefährliche Gefährt hatte keinen Autopiloten. Der benzinbetriebene Motor erzeugte mit seinen Verbrennungskammern ein ohrenbetäubendes Getöse und spuckte giftige blaue Qualmwolken aus.
    Der Zigeuner stellte sich auf den Sitz, vollführte einen Handstand auf dem Lenker, fuhr knatternd bergauf und bergab, raste eine Rampe entlang und setzte über ein Metallfass hinweg. Er trug Stiefel, eine mit Pailletten besetzte Lederjacke und keinen Helm.
    Schließlich sprang er behende von der Maschine herunter, breitete die Arme aus und vollführte auf dem feuchten, von Reifenspuren durchpflügten Erdboden einen flotten kleinen Jig.
    Die Gajos waren verblüfft von der Tollkühnheit des Mannes. Sie spendeten frenetischen Applaus. Einige bewarfen ihn mit dünnen, kleinen Glitzerscheiben. Ein junger Roma klaubte sie eifrig aus dem abgestorbenen Wintergras, während der Held seine barbarische Maschine davonschob.
    »Womit haben sie ihn beworfen?«
    »[Mit Münzen.

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