Heiliges Feuer
Elixier des Lebens! Einiges fotografierte sie. Anderes stahl sie.
Am dritten Tag packte Ulrich Maya und einen mit sorgfältig ausgewählter Diebesbeute prall gefüllten Matchbeutel in einen gestohlenen Wagen. Sie ließen Munchen hinter sich und fuhren in die Außenbezirke von Stuttgart. Maya trug die Jacke, eine etwas zu enge Thermoskihose und schicke gestohlene Wanderstiefel. Sie hatte eine neue Perücke aufgesetzt, einen wirren, gelockten Haarschopf. Und dazu trug sie ein hübsches buntes Halstuch. Sonnenbrille. Grundierung, Rouge, Wimperntusche, falsche Augenwimpern, Lippenstift. Lackierte Finger- und Zehennägel, Fußwachs, Nährlotion und ein Duft, der sie Mia ein wenig näherbrachte. Wenn sie sich wieder ganz wie Mia fühlte, würde sie sich von alldem wieder lösen.
Es war ein kalter, regnerischer Tag. »[Ein Freund von mir hat den Wagen geklaut]«, erzählte Ulrich. »[Er hat sich am Bordrechner zu schaffen gemacht. Ich hätte natürlich auch einen Wagen mieten können, aber dann hab ich dran gedacht, wohin wir wollen und was wir transportieren. Ich mache mir Sorgen, dass man unseren Weg zurückverfolgen könnte, sollte man zufällig den Speicher überprüfen. Ein gestohlener und dummer Wagen ist für uns sicherer.]«
»Natürlich.« Er war ja so komisch. Sie hatte sich in kürzester Zeit an ihn gewöhnt. Der Sex mit Ulrich war vergleichbar mit dem Verlust ihrer Unschuld. Die gleiche milde Verachtung für den Mann und das gleiche Triumphgefühl, ihre Kindheit endgültig überwunden zu haben, hatte sie auch damals verspürt. Sex war wie schlafen, bloß besser für den Kreislauf und vergnüglicher. Sex sollte man haben, wenn man sich innerlich wie ein Trümmerfeld von Felsbrocken fühlte. Er half gegen die Einsamkeit, und hinterher fühlte man sich wohlig entspannt. Jedes Mal, wenn sie es miteinander trieben, stellte sich bei ihr das Gefühl ein, in ihrer Haut stecke mehr, als sie ahnte. Sie waren jetzt seit drei Tagen zusammen und hatten seitdem etwa zehnmal gebumst. Zehn Kletterhaken in einer Felswand, hoch über allem, was der Vergangenheit und Mia angehörte.
»[Ich wünschte, ich könnte die Automatik vollständig ausschalten und den Wagen von Hand steuern]«, meinte Ulrich, während er beobachtete, wie die alten Vororte von Munchen vorüberzogen. »[Das muss aufregend sein.]«
»Durchs Fahren von Hand sind mehr Leute umgekommen als im Krieg.«
»[Ach, ständig wird von den Todesraten geredet, als wenn Todesraten das einzige wären, worauf es im Leben ankommt ... Es wird dir bestimmt gefallen. Die Leute, die wir treffen, sind wahre Feinde der Politas.]«
Der Wagen fädelte sich auf die Autobahn ein und fuhr mit wahnsinniger Geschwindigkeit fast lautlos dahin. Die anderen europäischen Wagen waren stromlinienförmig und höllisch schnell und sahen aus wie angelutschte Bonbons. Manche Fahrer waren eingenickt oder lasen. »Hat die Politas denn richtige Feinde?«
»[Aber sicher doch! Viele! Unzählige! Ein breites Spektrum von Verweigerern und Dissidenten! Amische. Anarchisten. Andamaner. Australische Ureinwohner. Einige afghanische Stämme. Gewisse amerikanische Indianer. Und das sind bloß die, die mit ›A‹ anfangen!]«
»Prima«, meinte Maya.
»[Du darfst nicht glauben, die Leute duckten sich alle, bloß weil ihnen die Politas ein paar zusätzliche Lebensjahre zu bieten hat.]«
»Fünfzig oder sechzig Jahre. Und es werden immer mehr.«
»[Ein wundervolles Bestechungsgeld]«, räumte Ulrich ein. »[Aber auf der ganzen Welt gibt es Leute, die sich nicht korrumpieren lassen. Sie leben außerhalb des medizinischen Gesetzes. Außerhalb der Politas.]«
»Über die Amischen weiß ich Bescheid. Das sind keine Gesetzlosen. Die Leute bewundern sie. Sie beneiden sie um ihre Ernsthaftigkeit und Schlichtheit. Außerdem betreiben die Amischen noch richtige Landwirtschaft. Das finden die Leute rührend.«
Ulrich trug wie gewöhnlich sein Schafsfell. Er zupfte verärgert an einem kahlen Fleck am Ellbogen. »[Ja, die Amischen sind in Mode, aber das ist billig. Die Politas hat Popstars aus ihnen gemacht. Auf diese Weise versucht die Politas, alles Subversive zu integrieren. Sie stellt sie in ihrem Kulturzoo aus. Damit sie sich ihrer sogenannten Toleranz rühmen kann, während gleichzeitig der kulturellen Bedrohung ihrer Hegemonie die Spitze genommen wird.]«
Maya tippte sich ans Ohr. »Ich glaube, das Gerät hat alles übersetzt, aber es scheint mir nicht viel zu bedeuten.«
»[Es geht um die Freiheit! Um
Weitere Kostenlose Bücher