Heiliges Feuer
Mittel und Wege, sich seine Freiheit und individuelle Autonomie zu bewahren. Wer außerhalb des Gesetzes lebt, muss ein Gesetzloser werden.]«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Vielleicht kannst du dir ein paar Jahre der Autonomie erstehlen. Die Vorsichtigen aber werden dich auf lange Sicht überleben.«
»[Das wird sich noch zeigen. Die Politas wurde für alte Menschen erschaffen. Das Regime selbst aber ist noch nicht so alt. Im Grunde setzt es sich zusammen aus einem Haufen panischer Tattergreise, die alles in Strickwolle hüllen wollen. Sie glauben, sie hätten ein tausendjähriges Reich begründet. Die Amischen sind schon seit vierhundert Jahren Amische. Warten wir mal ab, ob diese kläglichen Omas und Opas die Amischen überleben.]«
Am Horizont ragten die Hochhäuser von Stuttgart auf. Sie hatten vierhundert Stockwerke, bestanden aus geschuppter Gelatine und sahen aus wie Riesenfische. An der Spitze traten kleine weiße Fahnen aus reinem Wasserdampf aus. Sah man genauer hin, konnte man erkennen, dass die Wände der Häuser sachte atmeten. Falten werfend und funkelnd, ein und aus.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Stuttgart Indianapolis so ähnlich ist«, meinte Maya.
»[Warst du schon mal in Indianapolis?]«
»Mittels Telepräsenz.«
»[Ah, ja.]«
Sie betrachtete die Hochhäuser in der Ferne und seufzte. »Man sagt, Stuttgart sei die bedeutendste Kunstmetropole auf der ganzen Welt.«
»[Ja]«, meinte Ulrich versonnen, »[Stuttgart ist sehr künstlich.]«
Große grüne Hügel umgaben die Stadt. Die Hügel bestanden aus dem komprimierten Schutt des alten Stadtkerns. Stuttgart hatte unter den Seuchen der vierziger Jahre schwer zu leiden gehabt. Der größte Teil der Stadt war niedergebrannt, nachdem die Bevölkerung in Panik geflohen war. Die Rückkehrer hatten die verkohlten, ansteckenden Trümmer abgerissen und Stuttgart in den grellen und visionären fünfziger und sechziger Jahren vollständig neu aufgebaut. Die Architekten des neuen Stuttgart waren durch keinerlei Überreste der Vergangenheit behindert worden, daher krempelten sie in einem biomodernistischen Taumel die Ärmel hoch und versuchten, faszinierende Sinnbilder ihrer eigenen kulturellen Epoche zu erschaffen. Menschen neigen ein wenig zur Hysterie, wenn sie sich selbst zu beweisen suchen, dass sie zu Recht zu den Überlebenden gehören.
Der Wagen fuhr von der Autobahn ab. Der Nieselregen hatte aufgehört, und die blasse Wintersonne kam hervor. Die Hügel waren mit kahlen, jungen Walnussbäumen bestanden. An manchen Stellen ragten pittoreske Trümmerteile aus dem Erdboden hervor.
Sie parkten und stiegen aus. Ulrich gab dem Wagen Anweisung, umherzufahren und auf Befehl zurückzukommen. »[Auf der Straße ist es sicherer]«, meinte er und fädelte das Netzgerät auf eine Kordel, die er auf der Hemdinnenseite befestigt hatte. »[Wir wollen schließlich nicht unmittelbar neben diesen Leuten parken.]«
Sie stapften bergan, durch den jungen Wald. Sie kamen an zwei Männern in Mänteln aus braunen Lederflicken vorbei, mit dunklen Bärten, metallenen Halsbändern, Ohrringen. Die Männer saßen auf Klappstühlen unter einem großen Sonnenschirm, vor sich einen kleinen Korbtisch. Einer der Männer fotografierte systematisch die Passanten. Der andere sprach in einer Maya unbekannten Sprache in ein Handy. Er nickte und grinste beim Reden und wirbelte einen meterlangen Bergstock umher. Der Stock war hübsch poliert, schwer, sehr massiv. Er sah aus, als sei er schon häufiger gegen anderer Leute Köpfe eingesetzt worden.
Die beiden Wachposten nickten leicht, als Maya und Ulrich an ihnen vorüberstapften. Grüppchen von Eurobürgern bahnten sich einen Weg zwischen den Bäumen einher, vermischt mit großen Trauben von Fremden, die sie mit verlegenem Gelächter begrüßten.
Auf der anderen Seite des Hügels gelangten sie zu einer Lichtung. Auf dem Hang waren große, schwarze Zelte verteilt, Lagerfeuer qualmten, und überall standen mit allerlei Waren und Ramsch überhäufte Klapptische herum. Dutzende von Gebrauchtwagen nahmen mit Seilen abgeteilte Parkplätze ein;
davor feilschten lautstark Gruppen bärtiger Männer mit Perlen im Ohrläppchen, paillettenverzierten Hüten und silbernen Halsketten. Dunkeläugige Frauen in bunt gestreiften Röcken, mit Zöpfen, Ohrringen und silbernen Fußspangen schlenderten durchs Lager. Erstaunlich viele Kinder tollten umher.
Ulrich wirkte angespannt und lächelte starr. Zahlreiche Deutsche schlenderten an
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