Heiliges Feuer
erster hier sein, das ist alles.«
»Um die Indizien zu beseitigen, bevor die Polizei auftaucht?«
»Schon möglich.« Er brachte ihr eine schöne Keramikschüssel mit dampfendem Brei und eine Porzellanvase mit schmalem Hals, gefüllt mit Mineralwasser. »Wenn du das gegessen hast, wirst du dich besser fühlen.« Er ging seine eigene Schüssel holen.
Sie probierte das sprudelnde Mineralka. »Merci beaucoup.«
»Englisch ist schon in Ordnung, Maya. Ich bin Programmierer, ich bin ein Opfer des globalen Technikjargons. Wir können ebensogut englisch sprechen. Es hat keinen Zweck mehr, sich dagegen zu wehren.«
Sie schnitten eine gelbe Lipidstange in Scheiben, rührten weiße Zuckerwürfel in die Kascha und aßen beide auf dem Bett. Das gemütliche kleine Ritual bewirkte, dass Maya sich wieder wie fünf vorkam. Sie fühlte sich sehr schwach und gereizt. Es schien ihr nicht ratsam, sich mit Paul zu streiten.
»Wenn ich meine Tage habe, bin ich unleidlich«, sagte sie. »Gestern Abend hatten wir einen Streit, und er hat sich aufgeregt. Es ist nicht gut, wenn man ihm spät nachts etwas erzählt, dann schläft er schlecht.« Sie seufzte. »Abgesehen davon, dass ich heute Morgen aussehe, als wär ich halbtot.«
»Keineswegs«, sagte Paul. »Ohne Perücke und ungeschminkt hat dein Gesicht eine Menge Charakter. Nach konventionellen Maßstäben ist es weniger attraktiv, dafür aber viel reizvoller. Es drückt eine Art melancholische Entrücktheit aus, eine Art Weltschmerz. Dein Gesicht hat etwas Ikonenhaftes.«
»Du bist sehr taktvoll und galant.«
»Nein, ich spreche bloß als Ästhet.«
»Was machst du in Stuttgart, Paul? Es tut mir Leid, dass ich dich heute von der Arbeit abhalte, was immer das sein mag.«
»Ich programmiere. Und ich lehre an der Universität.«
»Wie alt bist du?«
»Achtundzwanzig.«
»Und in dem Alter lässt man dich schon lehren?«
»Das europäische Universitätssystem ist sehr alt, verknöchert und bürokratisch, aber wenn man Publikationen vorweisen kann und Sponsoren hat, und es besteht Nachfrage seitens der Studenten, dann darf man lehren. Sogar mit achtundzwanzig.« Er lächelte. »C’est possible.«
»Was lehrst du denn?«
»Ich lehre Kunsthandwerk.«
»Oh. Natürlich.« Sie nickte mehrmals hintereinander. »Weißt du, ich suche jemanden, der mir das Fotografieren beibringt.«
»Josef Novak.«
»Wer?«
»Josef Novak, er lebt hier in Prag. Seine Arbeiten kennst du bestimmt nicht. Aber er ist ein wahrer Meister seines Fachs. Ein Pionier der Virtualität. Ich bin mir nicht sicher, ob Novak noch Schüler annimmt, er kam mir halt in den Sinn.«
»Ist er ein Gerontokrat?«
»Ob er ein ›Gerontokrat‹ ist? Einen guten Lehrer sollte man nicht geringschätzen. Der Umgang mit Novak ist natürlich nicht leicht. Sehr alte Menschen sind meistens schwierig im Umgang.«
»Josef Novak ... warte mal, ist das nicht der, der Anfang des Jahrhunderts die Desktop-Umgebung Glaslabyrinth entworfen hat?«
»Das war lange vor meiner Zeit.« Paul lächelte. »Novak war in seiner Jugend sehr produktiv. Die meisten Arbeiten sind mittlerweile natürlich verloren. Der tragische Verlust der frühen digitalen Standards und Plattformen ... das war eine kulturelle Katastrophe.«
»Klar, Glaslabyrinth, Der Skulpturengarten, Verschwundene Statuen, das stammte alles von Novak. Damit hat er damals großen Erfolg gehabt! Das waren wundervolle Arbeiten! Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt.«
»Er wohnt ganz in der Nähe.«
Sie setzte sich auf. »Tatsächlich? Dann lass uns zu ihm gehen! Du stellst mich ihm vor, würdest du das tun?«
Paul sah aufs Handgelenk. »Ich habe heute Nachmittag eine Vorlesung in Stuttgart ... Tut mir Leid, ich stehe im Moment ein wenig unter Zeitdruck.«
»Ach, das ist aber schade.«
»Aber es freut mich, dass es dir wieder besser geht.«
»Die Wirkung des Schmerzmittels hat eingesetzt. Vielen Dank. Außerdem geht’s mir immer besser, wenn ich gegessen habe.«
»Dann kennst du also Josef Novaks Frühwerk. Du bist ja eine richtige Altertumsforscherin, Maya. Das ist wirklich interessant. Erstaunlich. Wie alt bist du?«
»Paul, vielleicht sollte ich Emil in den nächsten Tagen aus dem Weg gehen. Es wäre vielleicht besser, wenn ich für eine Weile aus seinem Leben verschwände. So wie die Dinge liegen. Was würdest du mir raten?«
»Ich glaube, Emil geht es morgen bestimmt wieder besser. So ist es bei ihm meistens. Aber wahrscheinlich hast du trotzdem Recht. In Anbetracht
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