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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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der Umstände.«
    »Vielleicht sollte ich mich ein paar Tage lang einfach herumtreiben. Hättest du was dagegen, wenn ich dich nach Stuttgart begleiten würde? Dann könnten wir uns unterwegs unterhalten. Aber ich will mich nicht aufdrängen.«
    »Davon kann doch gar keine Rede sein, ich würde mich über deine Gesellschaft freuen.«
    »Ich ziehe mich an. Okay?«
    Im Atelier gab es keine Gelegenheit, sich unbeobachtet umzukleiden. Die jungen Leute machten um die Privatsphäre kein großes Aufhebens. Maya zwängte sich unbeholfen in eine Freizeithose und einen Pullover. Paul wusch ab, ohne sie zu beachten.
    Als sie einen Blick in den Taschenspiegel warf, war sie entsetzt. Die Wahrheit war so offensichtlich, als wenn sie ihr in Leuchtfarben auf die Stirn gemalt gewesen wäre. Dies war nicht das Gesicht einer jungen Frau.
    Das Gesicht war posthuman, blass, abgehärmt und randvoll mit exotischen Spielarten des Schmerzes, deren vollständiger Ausdruck ihm nicht gestattet war. Das künstlich geformte, wächserne Gesicht einer altmodischen Schaufensterpuppe.
    Sie eilte zur Küchenspüle und machte sich mit Reinigungsgel an die Arbeit. Toning-Lotion. Porenreiniger. Nährlösung. Grundierung. Rougepinsel. Lidstrich. Lipgloss. Wimperntusche. Skleralaufheller. Die Brauen nachziehen. Das Zähneputzen hatte sie vergessen. Dazu war es jetzt zu spät.
    Der Spiegel lieferte ihr die Bestätigung dafür, dass sie die Wahrheit erfolgreich in die Schranken gewiesen hatte. Mit Kosmetika zugekleistert. Ihr Haar sah noch immer schrecklich aus, aber Naturhaar war stets problematisch.
    Sie legte einen hellen tschechischen Schal um, schlüpfte in die Schuhe, setzte sich die große warme, graue Baskenmütze auf. Sie steckte ein paar noch halb volle Geldkarten in den Rucksack. Irgendwie würde es schon gehen. Jetzt war sie eingemummt, geschützt. Voller Optimismus und Zuversicht.
    Paul hatte sich derweil geduldig Emils neueste Arbeiten angeschaut. Er öffnete einen Holzkasten. »Hat er dir das schon mal gezeigt?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Das ist sein Lieblingsstück.« Paul griff mit übertriebener Vorsicht in den mit zerschlissenem Futter ausgekleideten Kasten hinein und holte eine zarte weiße Tasse mit Unterteller heraus. Beides stellte er auf Emils Werkbank. »Das hat er kurz nach der Veränderung gemacht. Damals hat er sich gegen die Realität gewehrt wie ein Ertrinkender.«
    »Eine Tasse«, sagte Maya.
    »Fass sie an. Nimm sie in die Hand.«
    Maya wollte die Tasse ergreifen, doch sie prickelte, sodass sie die Hand zurückriss. Paul kicherte.
    Maya tippte die Untertasse behutsam mit dem Zeigefinger an. Sie spürte ein schwaches elektrisches Kribbeln, als streife ihr etwas Stachliges über die Haut. Ein knisterndes SandpapierGefühl.
    Paul lachte.
    Sie packte entschlossen die Tasse. Obwohl sie die Hand nicht rührte, hatte Maya den Eindruck, die Tasse summe und winde sich in ihrer Hand. Sie setzte sie wieder ab. »Ist da eine Batterie drin? Funktioniert der Trick so?«
    »Das ist kein Porzellan«, meinte Paul.
    »Was ist es dann?«
    »Keine Ahnung. Es sieht aus wie Porzellan und glänzt auch so, aber ich glaube, es ist piezoelektrisches Schaumglas. Ich habe mal beobachtet, wie er eine Tinktur in die Tasse gegossen hat. Die Flüssigkeit sickerte langsam durch die Tasse und den Unterteller hindurch. Aufgrund irgendeiner Eigenschaft - sei es die Porösität, die Fraktaldimension oder vielleicht durch van der Waals-Kräfte - reagiert das Material eigentümlich bei Berührung.«
    »Aber warum?«
    »Das ist ein objet gratuit. Ein Kunstwerk, das den Bankrott des Alltäglichen demonstrieren soll.«
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Ist Emil ein Witz?«, entgegnete Paul. »Ist es witzig, kein Mensch mehr zu sein? Sicherlich. Was ist ein Witz? Ein Witz bringt das gewohnte Vorstellungsgebäude ins Wanken.«
    »Aber das ist noch nicht alles.«
    »Natürlich nicht.«
    »Erzähl mir den Rest.«
    Paul packte Tasse und Unterteller wieder in den Kasten und stellte den Kasten behutsam ins Regal. »Bist du fertig? Dann sollten wir allmählich aufbrechen.« Er nahm ihren Rucksack, hielt ihr die Tür auf und schloss hinter sich sorgfältig ab.
    Sie polterten die knarrende Treppe hinunter. Draußen war es bedeckt und windig. Sie wandten sich zur U-Bahnhaltestelle Narodni. Maya hielt sich dicht bei Paul. In ihren flachen Schuhen war sie ebenso groß wie er. »Paul, bitte verzeih mir, wenn ich zu direkt bin. Ich komme aus einem anderen Land, und ich bin naiv. Ich

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