Heiliges Feuer
hoffe, du kannst mir das verzeihen. Du bist ein Lehrer, ich weiß, dass du mir die Wahrheit sagen kannst.«
»Dein Vertrauen rührt mich«, sagte Paul.
»Bitte sei nicht so. Was soll ich tun, damit du mir die Wahrheit sagst?«
»Vergegenwärtige dir das Objekt«, riet Paul ihr höflich. »Es durchbricht den alltäglichen Schwindel. Es konfrontiert uns mit einer taktilen Verletzung unserer konventionellen Erfahrung.«
»Und?«
»Die Destruktion unserer normalen Befindlichkeit eröffnet uns eine Unzahl neuer, kreativer Sichtweisen. Diese Möglichkeiten müssen von den Erben der Menschheit assimiliert und systematisch fortentwickelt werden. Kunsthandwerk ist nicht dasselbe wie Kunst. Zwar entfaltet sie die Imagination des Vorbewussten, erkennt dabei aber an, dass die Vorstellungskraft des Unbewussten verarmt ist. Wir respektieren die Irrationalität des schöpferischen Impulses, leugnen aber die Vorherrschaft oder überhaupt die Relevanz der Halluzination. Wir machen uns die ganze Kraft der bewussten Rationalität und der wissenschaftlichen Methode nutzbar, um die menschliche Kultur vorsätzlich zu destruieren und zu überwinden.«
Sie stiegen die Treppe zur U-Bahnstation hinunter. Paul holte diskret einen laminierten Reiseausweis aus der Innentasche seines Jacketts. »Die Conditio Humana ist Vergangenheit. Die Natur ist Vergangenheit. Die Kunst ist Vergangenheit. Das Bewusstsein ist formbar. Die Wissenschaft ist ein unerschöpfliches Pulverfässchen. Wir stehen vor einer neuen Realität, die bislang von den angeborenen Beschränkungen der Säugetierprimaten verdeckt wurde. Wir müssen Werke erschaffen, welche diese neue Wirklichkeit ans Licht bringen, eine Abfolge uneigennütziger Gesten, die in ihrer Gesamtheit das Bewusstsein der Posthumanität formen werden.« Pauls ruhiger Blick wurde intensiver. »Gleichzeitig dürfen wir in politischer Hinsicht die fragile Oberflächenspannung einer alternden Zivilisation, die vorgibt, utopische Gelassenheit erlangt zu haben, obwohl sie insgeheim unheilbar traumatisiert ist, nicht zerstören. Unter der abstoßenden Hülse der absterbenden menschlichen Agenda müssen wir die biologische Basis der Wahrnehmung und die Verfassung der Kultur systematisch verändern und von den Ergebnissen aufrichtig, objektiv und demütig Zeugnis ablegen. Das ist im wesentlichen unser Programm als Kunsthandwerker.«
»Ich verstehe. Kannst du mir ein Ticket kaufen?«
»Ein Ticket für die U-Bahn oder eins nach Stuttgart?«
»Könntest du mir vielleicht beide kaufen? Inklusive Rückfahrt.«
»Weshalb nimmst du nicht meinen Europapass? Der ist bis Mai gültig.«
»Meinst du wirklich, Paul? Das ist sehr großzügig.« Er reichte ihr den laminierten Ausweis. »Nein, nein, ich bekomme eine neue Smartcard von den Universität. In Europa gibt es lauter Vergünstigungen.« Er machte sich an einem Automaten zu schaffen.
Sie stiegen in die U-Bahn und hielten sich an Haltegurten fest. Maya musterte Paul. Sie mochte die Art und Weise, wie er sich das Haar hinter die Ohren streifte. Sie bewunderte den grazilen Schwung seiner beweglichen dunklen Augenbrauen, den Schnitt seiner Lider. Seine Nähe tat ihr gut. Er war so jung.
»Erzähl mir noch mehr, Paul. Red weiter.«
»Wir müssen uns bereit machen, die kommende Epoche kreativ in Besitz zu nehmen. Eine Epoche mit so großem poetischem Reichtum, so unendlich siegreich, so aufgeladen mit Bedeutung, dass nur diejenigen, welche darauf vorbereitet sind, im Kataklysmus zu baden, die Singularität transzendieren werden. Eines Tages werden wir allem Hass auf das Wunderbare die Spitze nehmen. Das Erstaunliche am Phantastischen ist, dass der Inhalt zum Gefäß wird; das Fantastische infiltriert unausweichlich den Alltag. Das ist bloß eine Frage der Zeit, und Zeit ist ein unerschöpfliches Gut. Die Normalität hat keine Kraft mehr; es gibt bloß noch Routine.«
»Das hast du wunderschön gesagt.« Er lächelte. »Das möchte ich auch fast meinen.«
»Ich wünschte, ich wäre auch so schön.«
»Ich glaube, du verwechselst da die Kategorien, meine Liebe.«
»Also gut - dann wünschte ich, ich könnte etwas Schönes erschaffen.«
»Vielleicht hast du das bereits getan.« Er stockte. »»Schönheit ist ein wirklich interessantes Konzept. Der Schnittpunkt dreier Welten ...«
Die U-Bahn hielt am Museum, und eine plappernde Touristenhorde strömte in den Wagen, eine drängelnde Ansammlung von Rucksäcken und Taschen. Maya und Paul standen mitten in der Menge,
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