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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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an den Haltegriffen schwankend. Er hatte sie davon zu überzeugen versucht, dass er das Universum zu erschüttern vermochte, dabei waren sie inmitten einer Horde teilnahmsloser Fremder wie in einem Viehtransporter eingekeilt.
    Allmählich wurde es heiß im Wagen. Irgendetwas verkrampfte sich tief in ihrem Innern, und als sie den Schmerz ausgeschwitzt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie heute etwas wahrhaft Verrücktes tun würde. Irgendetwas Wahnsinniges, Spontanes, das sich ganz von selbst ergab. Vom Boden abheben. Von einem Gebäude springen. Sich auf den Bauch werfen und die Füße eines Polizisten küssen. Zum Mond fliegen und die Füße in den kreidig-weißen Boden graben und nach Luna suchen ... Paul musterte sie mit unverhohlener Besorgnis. Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.
    Am Hauptbahnhof schleppte sie sich auf die Toilette. Sie hantierte mit den Hygienegeräten, trank zwei Becher Wasser und trat in besserer Verfassung wieder auf den Gang. Das hübsche Gesicht im Spiegel mit den großen Augen und den kleinen Schweißperlen unter den verschiedenen Schminkschichten glühte, als werde es vom heiligen Feuer verzehrt.
    Paul war aufmerksam. Er besorgte zwei Sitzsäcke mit einem hübschen Klapptisch in der Ersten Klasse. Der Stuttgart-Express fuhr sehr schnell.
    »Ich liebe die europäischen Züge«, plapperte Maya drauf los.
    »Auch die richtig schnellen, die den größten Teil des Weges unterirdisch zurücklegen.«
    »Vielleicht solltest du mal nach Wladiwostok fahren«, sagte Paul.
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Das hat in unserer Gruppe Tradition. Wladiwostok, der äußerste Punkt des eurasischen Kontinents. Du hast jetzt einen Europass und hast gesagt, du wolltest dich treiben lassen. Warum nicht nach Wladiwostok? Du wärst eine ganze Weile allein. Du könntest dich erholen und deine Gedanken sammeln. Bis zum äußersten Rand von Asien und wieder zurück bräuchtest du etwa fünf Tage.«
    »Und was fängt man am pazifischen Rand an?«
    »Also, wenn du einer von uns bist, dann gehst du in Wladiwostok zu einem gewissen obskuren Ptydepe - Verzeihung, ich meine natürlich eine öffentliche Telepräsenzsite - und vollziehst dort eine spontane Handlung. Unsere Gruppe überwacht diese PTS ständig mittels eines Konzeptfilters. Jede Geste, welche die Aufmerksamkeit des Scanners erregt, wird automatisch an alle Teilnehmer der Mailingliste übermittelt.«
    »Wie erfahre ich, ob meine Geste spontan genug ist?«
    »Mittels Intuition, Maya. Es ist hilfreich, wenn du dir vorher andere Performances anschaust. Das ist nicht bloß eine menschliche Ermessensfrage - unser Filterprogramm entwickelt seine eigenen Standards. Das ist die Schönheit der inhärenten Schönheit.« Paul lächelte. »Woher weiß man, dass etwas ungewöhnlich ist? Was ist gewöhnlich? Was lässt das Alltägliche so zerbrechlich und doch so allgegenwärtig erscheinen? Die Membran zwischen dem Bizarren und dem Langweiligen ist notwendigerweise durchlässig.«
    »Offenbar entgeht mir als Nichtteilnehmer an eurem Netzwerk eine Menge.«
    »Zweifellos.«
    »Weshalb trefft ihr euch überhaupt noch physisch in dieser Prager Bar, wo ihr doch so eng vernetzt seid?«
    Paul ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. »Hast du einen Übersetzer? Funktioniert er?«
    »Ja. Benedetta hat mir im Tete einen Übersetzer geschenkt.« Sie zeigte Paul das Collier.
    »Wirklich reizend von meiner geschätzten Kollegin Benedetta. Ich nehme an, dann beherrscht das Gerät auch Französisch. Schalt es ein.« Paul steckte sich ein kleines Gerät ins Ohr.
    Maya hantierte mit den Diamanten und steckte sich das goldene Vogelnest ins Ohr. Paul sprach französisch weiter. »[Ich nehme an, du verstehst mich immer noch.]«
    »Ja. Das Gerät funktioniert ausgezeichnet.«
    »[Es zirkulieren zahllose Ohrübersetzer. Die sind heutzutage allgemein verbreitet. Du sprichst englisch, ich spreche französisch, das Gerät übersetzt für uns. Und wenn der Hintergrundlärm gering ist ... und wenn wir nicht allzu viele Jargonausdrücke gebrauchen ... und wenn nicht zu viele Leute gleichzeitig reden ... und wenn wir nicht irgendwelche Bezüge einfließen lassen, die das Begriffsvermögen des Minirechners übersteigen ... und wenn wir unsere Unterhaltung nicht mit zu vielen nonverbalen Interaktionen wie Gesten und Mimik anreichern - nun, dann verstehen wir einander.]« Er vollführte eine weit ausholende Geste. »[Das heißt, allen Unzulänglichkeiten zum Trotz pressen wir ein Fünkchen

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