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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Bedeutung durch diese schrecklich intime technische Ohrmembran hindurch].«
    »Ja, das trifft es! Genau so funktioniert es.«
    »[Betrachte mal mein Gesicht, während ich spreche. Verschiedene Muskeln treten in Aktion, es stellt sich ein gewisser Spannungszustand ein, der das Gesicht zu einer charakteristischen Abfolge verbaler Äußerungen befähigt - auf französisch. Bewusst nehme ich keinen Einfluss auf meine Mimik. Bewusst nimmt man nicht wahr, was da vor sich geht. Gleichwohl sind große Bereiche unseres Gehirns mit der Analyse des Gesichtsausdrucks und der Sprache beschäftigt. Untersuchungen haben ergeben, dass wir uns gegenseitig nicht aufgrund unserer Haltung, unserer Gene oder der Kleidung als Fremde wahrnehmen, sondern weil die jeweilige Sprache unser Gesicht geformt hat. Das ist vorbewusste Wahrnehmung. Ein Übersetzer ist dazu nicht in der Lage. Auch ein Netzwerk nicht. Netzwerke und Übersetzer denken nicht. Sie rechnen bloß.]«
    »Ja, und?«
    »[Du siehst mich im Moment, hörst mich mit einem Ohr französisch sprechen und empfängst mit dem anderen Ohr rechnergenerierte Daten. Irgendein Teil von dir, der sich deiner Wahrnehmung entzieht, spürt, dass das ein einziges Durcheinander ist.]«
    Er langte über den Tisch und ergriff ihre Hand. »[Jetzt halte ich deine Hand, während ich französisch mit dir rede. Sieh mal, ich halte deine Hand mit beiden Händen umfasst. Ich streichle deine Hand. Wie fühlt sich das an?]«
    »Angenehm, Paul.«
    »Und wie fühlt es sich an, wenn ich englisch mit dir rede?«
    Überrascht entzog sie ihm ihre Hand.
    Er lachte. »Da. Hast du gesehen? Deine Reaktion enthüllt die Wahrheit. Mit Netzwerken ist es das gleiche. Wir treffen uns physisch, weil wir die Netzwerke ergänzen müssen. Nicht deshalb, weil es den Netzwerken an Intimität mangeln würde. Im Gegenteil, Netzwerke sind viel zu intim, auf einer zu schmalen Bandbreite. Wir müssen uns auf eine Weise begegnen, die unseren grauen Zellen Nahrung gibt.«
    »Das ist sehr klug. Aber sag mal - was wäre eigentlich gewesen, wenn ich meine Hand nicht weggezogen hätte?«
    »[Dann]«, sagte Paul mit großem Scharfsinn und Feingefühl, »[hätte man daraus schließen können, dass deine Wahrnehmung gestört ist. Was offenbar nicht der Fall ist.]« Und damit war das Thema erst einmal erledigt.
    Jetzt erst fiel ihr auf, dass er am Mittelfinger der Rechten einen Ring trug. Der Ring sah aus wie ein eingraviertes dunkles Band - doch es war gar kein Ring. Es war ein schmaler Pelzstreifen. Ein dichtes braunes Pelzband, das in Pauls Finger verwurzelt war.
    Auf Magnetfeldern schwebend, glitten sie mit enormer Geschwindigkeit durch die mit Diamantbohrern ausgehöhlten Tunnel in der europäischen Erde. Maya empfand in Pauls Gesellschaft großes Vergnügen und verspürte überhaupt kein Bedürfnis, mit ihm zu flirten. Das wäre das gleiche gewesen, als machte man einem Stalaktiten aus Kalkstein schöne Augen. Es reizte sie nicht, mit ihm intim zu werden. Tagtäglich die Qual einer solchen Bewusstseinsklarheit zu ertragen, hätte einer Frau eine Menge Selbstverleugnung und Geduld abverlangt. Falls er eine Freundin hatte, so saß sie ihm bestimmt mit der Gabel in der Hand am Frühstückstisch gegenüber und wurde von den vier Stahlzinken seiner Intelligenz, seiner Auffassungsgabe, seines Ehrgeizes und seines Selbstbewusstseins durchbohrt.
    Paul musterte sie schweigend, offenbar mit ganz ähnlichen Gedanken beschäftigt. Sie meinte beinahe, das Hochgeschwindigkeitsknistern der neurochemischen Denkprozesse in den feuchten Drüsentiefen seines Löwenhauptes wahrzunehmen.
    Um ein Haar hätte sie alles gebeichtet. Dies wäre eine große Dummheit gewesen, die sie bereits zum zweiten Mal begangen hätte, doch sie war heute dermaßen aufgedreht, dass sie das Risiko so dringend brauchte wie Sauerstoff zum Atmen, und vor allem war ihr wirklich danach. Sie wollte Paul nicht berühren, ihn in den Armen halten und liebkosen, aber sie verspürte das Bedürfnis, sich ihm zu offenbaren. Sich zu opfern und ihn dadurch zu zwingen, sie ernst zu nehmen.
    Doch bei ihm wäre es anders als bei Emil. Armer Emil, auf seine eigentümliche animalische Art stand er außerhalb der Zeit und war unverwundbar, unzerstörbar. Paul war ganz gegenwärtig. Paul redete über kosmische Umwälzungen und befand sich trotzdem nicht jenseits des Jordans. Paul war jung, er war bloß ein junger Mann. Ein junger Mann, der keinen Bedarf für ihre Probleme hatte.
    Ihre Blicke trafen

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