Heiliges Feuer
sich. Auf einmal bestand eine wahnsinnige Spannung zwischen ihnen. Bei jedem anderen hätte es sich wie sexuelle Anziehung angefühlt. Mit Paul war es ein telepathischer Angriff.
Er starrte sie an. Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken. Seine zarten Brauen wölbten, seine Augen weiteten sich.
»Was denkst du gerade, Paul?«
»Ist die Frage ernst gemeint?«
»Ja, klar.«
»Ich überlege, warum ich diese frivole junge Schönheit vor mir sehe. Hier, auf der anderen Seite des Tisches.«
»Weshalb sollte ich nicht da sein?«
»Weil das eine Fassade ist. Hab ich Recht? Du bist nicht frivol. Und ich bin mir auf einmal ziemlich sicher, dass du nicht jung bist.«
»Wieso sagst du das?«
»Du bist sehr schön. Aber das ist nicht die Schönheit einer jungen Frau. Du bist wunderschön. In deiner Gegenwart empfinde ich einen Anflug von Grauen.«
»Vielen Dank.«
»Jetzt, da ich es erkannt habe, frage ich mich, was du von uns willst. Bist du ein Polizeispitzel? Bist du vom Sozialdienst?«
»Nein. Bin ich nicht, ehrlich.«
»Ich war mal beim Sozialdienst«, sagte Paul ruhig. »Bei der Jugendliga, in Avignon. Ich war ziemlich engagiert und habe eine Menge interessanter Dinge gelernt. Aber ich hab aufgehört, hab’s hingeschmissen. Weil sie die Welt zum Besseren verändern wollten. Und ich wusste, dass ich das nicht wollte. Ich wollte, dass die Welt interessanter wird. Findest du das verbrecherisch, Maya?«
»Auf diese Weise habe ich es noch nicht betrachtet. Mir erscheint es nicht sonderlich verbrecherisch.«
»Eine ganz gute Bekannte von mir ist Polizeispitzel. Du erinnerst mich stark an sie. Sie verfügt über die gleiche eigentümliche Selbstbeherrschung wie du und besitzt eine ähnlich intensive Ausstrahlung als Frau. Als ich dich gerade so angeschaut habe, wurde mir bewusst, dass du der Witwe ähnlich siehst. Und dann wurde mir auf einmal alles klar.«
»Ich bin keine Witwe.«
»Sie ist eine erstaunliche Frau. Unglaublich schön, sublim. Sie ist eine Art Sphinx. Ein unberührbares mythisches Wesen. Sie interessiert sich sehr fürs Kunsthandwerk. Vielleicht lernst du sie ja mal kennen. Falls du in unserer Nähe bleibst.«
»Diese Witwe - ist eine Kunstpolizistin? Ich wusste gar nicht, dass sich die Polizei auch mit Kunst beschäftigt. Wie heißt sie?«
»Sie heißt Helene Vauxcelles-Serusier.«
»Helene Vauxcelles-Serusier ... Du meine Güte, was für ein wundervoller Name!«
»Wenn du Helene noch nicht kennst, kannst du sie kennen lernen.«
»Ich will sie bestimmt nicht kennen lernen. Ich bin nämlich keine Informantin. In Wirklichkeit bin ich eine flüchtige Kriminelle.«
»Informantin, Kriminelle ...« Er schüttelte den Kopf. »Der Unterschied ist geringer, als man meinen möchte.«
»Wie immer hast du Recht, Paul. Das ist wie der verschwommene Unterschied zwischen Grauen und Schönheit. Oder Jugend und Alter. Oder Kunsthandwerk und Verbrechen.«
Er blickte sie verwundert an. »Gut gesagt«, meinte er schließlich. »So hätte Helene es auch ausgedrückt.«
»Ich schwöre dir, ich bin keine Polizeiagentin. Wenn ich könnte, würde ich’s dir beweisen.«
»Vielleicht bist du wirklich keine. Nicht, dass Sozialdienstler nicht hübsch sein könnten, aber normalerweise finden sie deine Art des Glamours verdächtig.«
»Ich bin nicht verdächtig. Weshalb sollte ich verdächtig sein?«
»Ich verdächtige dich, weil ich meine Freunde schützen muss«, sagte Paul. »Wir leben unser Leben, das ist keine bloße theoretische Übung. Unsere Generation wurde oft getäuscht. Wir müssen unsere Vitalität behüten, denn die wird systematisch erstickt. Andere Generationen hatten dieses Problem nicht. Wenn ihre Eltern ins Grab sanken, fiel ihnen die Macht in den Schoß. Wir aber sind nicht einmal eine richtige Generation. Wir sind die ersten wahrhaft posthumanen Menschen.«
»Und ihr habt Wünsche, die mit dem Status quo unvereinbar sind.«
»Mais oui.«
»Also, die habe ich auch. Sogar eine ganze Menge.«
»Niemand hat dich gebeten, sich uns anzuschließen.«
Diese Bemerkung verletzte Maya. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr ein Messer in den Leib gerammt. Paul starrte sie herausfordernd an, doch Maya fühlte sich auf einmal zu müde, um ihm zu trotzen. Er war zu jung, zu stark und schlagfertig, und sie war zu aufgeregt und innerlich zerbrochen, um ihn in die Ecke zu drängen. Sie brach in Tränen aus. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie. »Soll ich dich um Erlaubnis bitten, leben zu
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