Heimat Mars: Roman (German Edition)
übereinstimmten. Die Flaute nach dem politischen Sturm, den wir auf der Erde erlebt hatten, war kein Dauerzustand, sondern nur ein Aufschub, eine Atempause. Und niemand konnte wissen, wie lange sie anhalten würde. Falls sich der Mars gegen Mutter Erde erhob, konnte sich kein Marsianer im Besitz seiner vollen Kräfte heraushalten und in seiner Nische dem Privatleben frönen.
Ti Sandra machte weitere Andeutungen über größere Pläne.
Auf der Erde hatte ich die Erfahrung gemacht, dass ich ein gewisses Talent für Politik besaß. Meine Albträume wurden durch ein Verantwortungsgefühl verursacht, das sich immer stärker in mir bemerkbar machte. Ti Sandra hatte dieses neue Gefühl sicher genährt, aber den Samen dafür hatte sie nicht gelegt.
Ilya wäre glücklich gewesen, wenn ich mich bis ans Ende unserer Tage an seinen Exkursionen und Forschungsarbeiten beteiligt hätte. Aber ich hatte mich bereits dagegen gewehrt …
Nicht, dass Ilya mich gelangweilt hätte. Ich liebte ihn so sehr, dass es mir manchmal Angst machte. Wie sollte ich weiterleben, falls ich ihn jemals verlor? Mein Vater fiel mir ein. Nach dem Tod meiner Mutter war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Wenn Stan, Stans Frau Jane und ich ihn besuchten, fiel er oft stundenlang in Tagträume und sprach kein Wort. Und wenn er sprach, kam er immer wieder auf Mutter zurück.
Die Liebe barg schreckliche Gefahren, aber Ilya spürte sie nicht. Er konzentrierte sich so intensiv auf seine Arbeit, dass ihm auch eine lange Geländefahrt durch unbekanntes Gebiet gar nichts ausmachte, falls er sich beispielsweise auf dem Weg zu einer irgendwo vermuteten uralten Wasserader (und vielleicht auch Fundstätte für Fossilien) befand. Wenn er auf solchen Exkursionen unterwegs war, ich allein zurückblieb und bei der Leitung der BG-Geschäfte half, konnte ich die Situation nicht ertragen. Also lenkte ich mich ab. Ich nahm immer mehr Beratungsaufträge außerhalb von Olympus an, traf mich mit Rechtsvertretern und Geschäftsführern anderer BGs und tauschte mit ihnen in lockerer Atmosphäre Meinungen zur künftigen Entwicklung von Wirtschaft und Politik auf dem Mars aus. Wieder einmal suchten die Ratsmitglieder die Rechtsvertreter der BGs dazu zu bringen, über die Vereinigung des Mars zu verhandeln. Spekulationen lagen überall in der Luft.
Ilya machte sich keine Sorgen um mich, wenn ich nicht da war. Als ich ihm vorwarf, ich sei ihm gleichgültig, sagte er: »Ich genieße es sogar, wenn du nicht da bist!« Und als ich wie in einem Melodram schmollte, fügte er hinzu: »Weil unsere Wiedervereinigung immer so stürmisch verläuft.«
Und da hatte er recht.
Inzwischen ranken sich viele Legenden um die Menschen, von denen ich hier erzähle. Aber von all diesen Menschen eignete sich Ti Sandra wohl am ehesten zur Sagengestalt, schon damals.
Häufig traf ich sie bei Konferenzen, in denen es um die Kontrolle der Familiengeschäfte ging. Wir arbeiteten wunderbar zusammen, und sie, ihr Mann Paul, Ilya und ich aßen oft auch gemeinsam. Paul und Ilya konnten Stunden damit zubringen, Vermutungen über den uralten Mars anzustellen. Paul äußerte gern wilde und überhaupt nicht fundierte Spekulationen, Spekulationen über intelligentes Leben oder legendäre Pyramiden und unterirdische Städte, die längst verschüttet seien. Ilya verfocht lachend einen mittleren Weg.
Ti Sandra und ich redeten über einen neuen Mars.
Ti Sandra beförderte mich zu ihrer Assistentin (ein Schritt, der mich sehr nervös machte) und ernannte mich in der Folgezeit zur Repräsentantin Erzuls bei den fünf größten BGs.
»Du bist berühmt«, meinte sie, während wir in ihrem Büro in Olympus saßen und starken Jasmintee tranken. »Du stehst für eine Besonderheit des Mars. Für etwas, das uns eigen ist, uns allen gemeinsam. Von Majumdar her hast du gute Verbindungen und außerdem direkte Verwandte bei der BG Cailetet.« Sie spielte auf meinen Bruder Stan an, der zur BG Cailetet gewechselt hatte. »Du bist beschlagen in Betriebsführung und Politik. Du bist auf der Erde gewesen. Das war ich nie.«
»Es war eine Katastrophe«, erinnerte ich sie.
»Es war ein Schritt in einem lange währenden Prozess«, korrigierte sie mich. Sie sprach präzise, überlegte genau, was sie sagen wollte, und sah mich dabei direkt an. Noch nie hatte ich sie so ernst erlebt. »Wie es aussieht, bist du glücklich verheiratet.«
»Sehr«, antwortete ich.
»Und offensichtlich kannst du es trotzdem auch ohne Ilya aushalten,
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