Heimat Mars: Roman (German Edition)
schrecklich, in diesem Zimmer, in dem ich von Ilyas Tod erfahren hatte, bleiben zu müssen. »Fragen Sie die Olympier, was sie benötigen, um mehrere große Tweaker zu bauen. Fragen Sie, wie lange sie dazu brauchen werden.«
»Ich werde Sie in acht Stunden wecken«, kündigte Lieh an und verließ das Zimmer.
Ich schloss die Augen.
Als die Trauer kam, drückte ich fest auf meine Augen, bis sie schmerzten. Ich wollte die Tränen zurückhalten und die Selbstbeherrschung nicht verlieren. Ich konnte es nicht akzeptieren. Ich konnte es nicht glauben. Mein aufgeklärtes Erwachsenen-Ich konnte gegen das Bedürfnis meines Kindheits-Ichs nichts ausrichten. Immer wieder stand mir das Gesicht meiner Mutter vor Augen, die gestorben war, ehe dies alles begonnen hatte. Verloren für mich. Verloren für meinen Vater. Ich wollte nicht die Trauer meines Vaters an den Tag legen, ich wollte mein innerstes Selbst nicht verlieren. Ich konnte mir Ilyas Gesicht nicht klar ins Gedächtnis rufen, nicht als Bild. Ich nahm mein Kom und suchte nach einem guten Foto, und ja, da war er, lächelnd über eine Mutterkapsel in Cyane Sulci gebeugt. Und hier, am Tag unserer Hochzeit. Man sah, dass er sich in dem förmlichen Anzug gar nicht wohl fühlte.
Es kam mir so vor, als hätte ich Ilya nicht offen genug und nicht oft genug gesagt, wie sehr ich ihn liebte und brauchte. Ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich denen, die ich liebte, meine Gefühle so selten offenbart und so wenig darüber gesprochen hatte.
Ich rieb mir die Augen. Mein Inneres fühlte sich wie zerfetztes Gummi an. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich einen medizinischen Roboter hereinrufen und diesen überwältigenden Schmerz betäuben lassen sollte. Ich sagte mir, ich dürfe nicht zulassen, dass meine Gefühle meine Arbeit behinderten. Aber ich hatte beim Tod meiner Mutter nichts dergleichen in Anspruch genommen und wollte es auch jetzt nicht tun.
Ich zwang meinen Körper, sich zu entspannen. Dann schlief ich plötzlich ein, als habe sich in meinem Kopf ein winziger Schalter auf ›Aus‹ gestellt, und die acht Stunden vergingen wie im Flug.
SECHSTER TEIL
2184
M ARSJAHR 60
AUFTAKT
»I CH WERDE NOCH MINDESTENS drei Wochen in diesem Zeug stecken«, sagte Ti Sandra, die sich nur von den Schultern aufwärts blicken ließ. Sie sah blass aus, wirkte aber lebhafter. Sie hatte gerade eine Intensivbehandlung zur Ausbildung neuer Körperteile hinter sich. Wieder war sie drei Tage lang bewusstlos und auf Gedeih und Verderb den Ärzten ausgeliefert gewesen. Ihren Anruf nahm ich, von tagelangen Besprechungen erschöpft, in meinem kleinen Büro in Kaibab entgegen. Datenspeicher-Würfel stapelten sich auf meinem Schreibtisch. Sie enthielten Entwürfe für Siedlungen und die Berichte von Herstellern, Transportunternehmen und Architekten.
»Ich habe die Ärzte dazu überredet, mich nach Many Hills zu verlegen. Sie bringen mich heute Nachmittag mit dem Shuttle dorthin. Ich kann dann schon Besucher empfangen und im Rollstuhl an Ausschusssitzungen teilnehmen … Wenigstens diesen Teil der Arbeit kann ich übernehmen.«
»Das ist eine wesentliche Hilfe«, sagte ich. Ich rückte ihr Bild auf dem Schirm ein paar Zentimeter zur Seite, um Platz für eingehende Berichte von Point One zu schaffen. Sie bezogen sich auf die Sicherheitsvorkehrungen für unser Projekt.
»Ich kann natürlich nicht nach Kaibab kommen. Du musst unser kleines Projekt vorläufig selbst aufbauen.«
»Ist in Arbeit.«
»Du klingst schlapp, Cassie.«
»Ich halte mit dem Durchhalten immer noch durch«, sagte ich. Vor Ti Sandra konnte ich meine Gefühle nie verbergen. In Wirklichkeit war ich in der letzten Woche, seit ich von Ilyas Tod erfahren hatte, zum Automaten geworden. Es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich hatte keine Zeit, meinem Kummer nachzugeben, keine Zeit, die Zukunft über wenige, kurze Wochen hinaus ins Auge zu fassen. Die Listen der zu erledigenden Aufgaben füllten täglich achtzehn oder zwanzig Stunden. Die schlimmste Zeit kam, wenn ich ein paar Minuten für mich selbst hatte, ehe die Erschöpfung mir den Schlaf brachte …
»Worin besteht dein Ziel, Liebes?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Wir müssen uns Ziele bewahren. Selbst Opferlämmer sollten etwas haben, auf das sie sich freuen können.«
Dieser Gedanke kam mir irgendwie obszön vor. Ich wandte mich kopfschüttelnd ab. »Das Überleben«, sagte ich.
Ti Sandras Gesicht verzog sich zu Sorgenfalten. »Wir werden
Weitere Kostenlose Bücher