Heimat Mars: Roman (German Edition)
machen. Meine widersprüchliche Haltung gab uns beiden Rätsel auf.
Die Belüftungsanlage in dem alten Bau ächzte und stöhnte, als wir unser Abendessen beendeten. Wie uns die Anzeigetafel im Chefzimmer verriet, war die Oberflächentemperatur draußen auf mindestens achtzig Grad minus gefallen. Der Wind heulte und brachte es auf hundert Stundenkilometer. Um unsere Sicherheit machte ich mir keine Sorgen. Wir hatten genügend Vorräte für zwei Wochen. Falls wir aufbrechen wollten, würde uns der Schlepper sicher durch alle Ungemach hindurchbringen, es sei denn, es käme ein großer Sturm auf. Und der war laut Wetterbericht des Satelliten nicht zu erwarten.
Wir waren außerhalb jeder Gefahr, keiner wusste, wo wir waren, mit jedem Schluck Wein wurde Charles schöner, und trotzdem schmerzte mein Nacken vor Anspannung.
»Morgen«, sagte Charles, »fahren wir zu den glattgeschabten Ebenen in einem alten Canyon.« Er hob sein Glas und musterte den Wein so, als handele es sich um einen ganz seltenen Jahrgang. Er kniff ein Auge zu, betrachtete die Farbe, bemerkte meine skeptische Miene und lachte. Vielleicht habe ich mich als erstes in dieses Lachen verliebt – ein gelassenes, sanftes, selbstironisches, aber nicht unterwürfiges Lachen, bei dem er die Augen rollte und das Kinn anhob.
»Was sind glattgeschabte Ebenen?«
»Natürliche Brüche im Kalkstein. Obere Schichten, die sich von den unteren gelöst haben. Das kann von der Erschütterung durch den Wind herrühren. Jedenfalls brechen die oberen Schichten nach und nach ab. Bald danach – na ja, innerhalb von hundert Millionen Jahren – bildet sich Eis in den Spalten, und die obere Schicht erodiert zu Sand und Staub. Wenn das alles wegweht, ist die unmittelbar darunter liegende Schicht … wie glattgeschabt.«
»Woher kommt das Eis, so weit im Süden?«
»Das Schaben hat vor rund dreihundert Millionen Jahren aufgehört. Es gab nicht mehr genug gefrorenes Wasser. Nur noch etwas Kohlendioxid im Winter. Aber genau dort lagern Fossilien. Dies war früher ein Gebiet, das für die Entwicklung von Leben gut geeignet war.«
»Entwicklung von Leben?«
»Muscheln. Nicht viel größer als dein Finger. Aber mein Großonkel hat hier einen unversehrten Archimedes-Schnapper gefunden, der etwa drei Meter lang war. Genau hier, während die Tunnel für diese Station gegraben wurden.«
»Was ist ein Archimedes-Schnapper?« Ich wusste genug über die Biologie des alten Mars, um mich an das größte Lebewesen der dritten Tharsiszeit zu erinnern, aber ich wollte Charles noch ein bisschen zuhören. Seine Stimme klang wirklich sehr schön, und allmählich gefiel es mir, wenn er Dinge erklärte und ich ihm dabei zuhörte.
»Das ist ein großer schraubenförmiger Bandwurm mit rasiermesserscharfen Wirbeln. Hat sich durch Schlamm am Meeresboden gewunden, kleinere Lebewesen zerhackt und dann Tentakeln vom Bauch aus ausgestreckt, um sich die Happen einzuverleiben und zu verdauen.«
Mir ging ein Schauer über den Rücken. Charles genoss den Effekt.
»Ziemlich herb, wenn man beispielsweise eine Qualle während der Paarungszeit war«, sagte er und trank sein Glas aus. Er hob es in meine Richtung und fragte ohne Worte, ob er mir nachschenken solle.
»Bin ich aber nicht«, sagte ich. »Warum klingt es trotzdem so grässlich?«
»Mehr Wein? – Grässlich?«, fragte Charles.
»Ich bin keine Qualle, warum kommt mir ein Archimedes-Schnapper trotzdem so grässlich vor?«
»Weil du nicht an Frischfleisch gewöhnt bist«, sagte Charles.
»Ich hab noch nie Fleisch gegessen. Angeblich verstärkt es … den Sexualtrieb. Die Instinkte.«
Charles streckte sein Glas erneut in meine Richtung. Ich fragte mich, ob er mich betrunken machen wollte. Das wäre ein nicht gerade anständiges Vorhaben. Eine apathische Frau, kaum der eigenen Sinne mächtig – würde ihn so etwas befriedigen? Oder wollte er mich ganz, mit Leib und Seele?
»Nein, danke«, lehnte ich ab. »Er sieht aus wie Blut.«
»Wie Blut aus den Venen«, bestätigte Charles und setzte sein halbvolles Glas ab. »Ich hab auch genug. Bin nicht daran gewöhnt.«
»Ich glaube, es ist Schlafenszeit«, bemerkte ich.
Charles blickte zu Boden. Ich rief mir sein Lächeln in Erinnerung und stellte mir Charles und mich ohne Decken und nackt in einem von unserem Blut aufgeheizten Zimmer vor. Mir wurde noch heißer, und das lag nicht am Wein. Ich wollte ihn ermutigen, aber irgend etwas hielt mich immer noch zurück. Wenn er jetzt nicht den ersten
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