Heimat Mars: Roman (German Edition)
selbst.
Charles gab mir doch alles, was er hatte.
Auf dem Rückweg zum Schlepper – wir hatten nur noch Luft für zehn Minuten, dann würden wir die Reserven angreifen müssen – kniete Charles sich an einer Stelle nieder und brach ein Stück aus dem Grund des Gläsernen Meeres. Er reichte es mir. »Ich weiß, dass du so was wahrscheinlich schon hast. Aber dieses hier ist von mir.«
Wer außer Charles, dachte ich, käme wohl auf die Idee, mir Blumen aus Stein zu schenken? Ich steckte den kleinen Stein in die Tasche. Wir kletterten in den Schlepper, in dem wir Sauerstoff zum Atmen hatten, und halfen einander dabei, unsere Schutzanzüge mit einem Sauger vom Staub zu befreien.
Charles schien ziemlich schlecht gelaunt, als er den Steuerknüppel ergriff und den Schlepper anwarf. In qualvollem Schweigen wendeten wir und fuhren aus der Schlucht.
Ich traf meine Entscheidung. Charles besaß Leidenschaft und Engagement. Ihm lagen seine Dinge am Herzen. Wir hatten gemeinsam schon viel durchgemacht, stets hatte er sich als mutig, zuverlässig und vernünftig erwiesen. Er brachte mir starke Gefühle entgegen.
Ich hätte schon wirklich eine Närrin sein müssen, diese Gefühle nicht zu erwidern. Inzwischen sagte ich mir, dass meine früheren Bedenken wohl nur meiner Feigheit und Unerfahrenheit zuzuschreiben waren. Als ich Charles schließlich ansah, – er wich meinem Blick aus, sein Gesicht war rot angelaufen –, sagte ich: »Ich danke dir, Charles. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
Er nickte und konzentrierte sich darauf, einige Felsblöcke zu umfahren.
»Du nimmst eine ganz besondere Stelle in meinem Herzen ein. Auf bestimmte Weise liebe ich dich auch. Wirklich.«
Bei meinen Worten löste sich seine starre Miene. Erst da erkannte ich, wie groß seine Angst gewesen war.
Ich lachte und lehnte mich zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen. »Wir sind so … seltsam «, sagte ich.
Er stimmte in mein Lachen ein, hatte aber Tränen in den Augen. Ich war selbst davon beeindruckt, welche Freude ich einem anderen Menschen schenken konnte.
An diesem Abend sank die Temperatur außerhalb des Stützpunktes auf minus achtzig Grad. Die Wände und Tunnel des unterirdischen Baus ächzten und stöhnten. Im Schlafzimmer des Chefs schoben wir unsere Betten zusammen. Charles und ich küssten uns, zogen uns aus und schliefen miteinander.
Ich weiß bis heute nicht, ob ich für ihn die erste Frau war. Damals spielte es keine Rolle, und heute ist es sowieso egal. Er wirkte eigentlich nicht unerfahren, begriff schnell, erregte und befriedigte mich, und ich war mir sicher, dass das, was ich empfand, Liebe war. Es musste Liebe sein, es war richtig so, es beruhte auf Gegenseitigkeit …, und es verschaffte mir großes Vergnügen.
Ich freute mich über seine Erregung, und danach unterhielten wir uns mit einer Lockerheit und Direktheit, wie sie vorher gar nicht möglich gewesen war.
»Was hast du später eigentlich vor?«, fragte ich ihn, während ich mich in seine Armbeuge kuschelte. Ich fühlte mich geborgen.
»Du meinst, wenn ich erwachsen bin?«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen. Er hatte dicke, ausdrucksvolle Augenbrauen und lange Wimpern. »Ich möchte begreifen lernen.«
»Was begreifen?«, fragte ich und strich die seidigen schwarzen Härchen auf seinem Unterarm glatt.
»Alles.«
»Glaubst du denn, dass das überhaupt möglich ist?«
»Ja.«
»Und wie wäre das? Wenn man versteht … wie alles funktioniert. Ich nehme an, du meinst die Physik.«
»Die würde ich auch gern begreifen«, sagte er. Ich dachte, er wolle mich vielleicht necken, aber als ich aufblickte, sah ich, dass es ihm ernst war. »Und was ist mit dir?«, fragte er und zwinkerte, während ihm ein leichter Schauder über den Rücken lief.
Ich zog einen Flunsch. »Mein Gott, darüber versuch ich mir ja schon seit Jahren klarzuwerden. Ich bin wirklich interessiert an Betriebsführung, an der Steuerung von Systemen – auf der Erde würde man es wohl Politik nennen. Der Mars ist in dieser Hinsicht wirklich schwach entwickelt.«
»Präsidentin des Mars«, sagte Charles feierlich. »Ich würde dich wählen.«
Ich kniff ihn in den Arm. »Zentralist«, frotzelte ich.
Beim Einschlafen dachte ich: Dieser Teil meines Lebens hat wirklich ein klares Ziel. Zum ersten Mal in meinem Erwachsenendasein teilte ich mein Bett mit einem anderen Menschen und spürte Geborgenheit anstelle der nagenden Einsamkeit der Jugend. Ich hatte das Gefühl, am
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