Heimat Mars: Roman (German Edition)
Eltern, nie gab er ihnen zu denken. Jetzt war er derjenige, der ihnen Ärger machte und sie provozierte.
Wir umarmten uns. »Lass dich von ihr nicht herumkommandieren.«
Stan machte ein böses Gesicht und wischte es wie ein Clown weg. »Ich bin stolz, dass du’s geschafft hast, Casseia«, sagte er mit strahlendem Lächeln. Er umarmte mich schnell noch einmal, schüttelte mir die Hand, gab mir ein kleines Päckchen und ging davon.
Ich nahm in einer Ecke Platz und löste die Verpackung. Darunter war eine Kapsel, die alle Dokumente und Videos unserer engeren Familie enthielt. Stan musste für das Übergewicht von hundert Gramm wohl extra bezahlt haben, auf der Schachtel war ein Frachtstempel. Das verstärkte meinen Kummer und das Gefühl von Einsamkeit noch mehr.
Ich ließ meinen Blick über die überfüllte Lounge schweifen und spürte dabei eine Traurigkeit, die gleichzeitig auch eine Art von Hochgefühl umfasste. Die Raumfähre würde in zwei Stunden starten. In noch nicht einmal sechs Stunden würde ich an Bord der Tuamotu sein. Wir würden aus der Umlaufbahn des Mars aufsteigen und in weniger als zwanzig Stunden in die solare Flugbahn einschwenken …
Ich steckte Stans Geschenk in die Tasche, straffte die Schultern und mischte mich mit einem breiten falschen Lächeln unter die Menge.
Selbst bei größtem Luxus waren Weltraumreisen nie bequem. Die Raumfähre zur Umlaufbahn machte uns auf drastische Art mit den Einschränkungen vertraut, die man beim Verlassen des Planeten auf sich nehmen musste: In einer Säule aus brennendem Wasserstoff oder Methan schoss man aus dem Goldfischglas des Planeten und befand sich dabei in einer zylindrischen Kabine, die nicht einmal zehn Meter Durchmesser hatte. Alle lagen mit nach außen zeigenden Füßen in übereinander angeordneten Kreisen, siebzig Passagiere und zwei Mann Besatzung. Währenddessen löste man sich aus der beruhigenden, sanften Umklammerung des Mars und fiel ins Endlose …
Temporäre Bichemie half dabei. Jene Passagiere, die sich auf Dauer mit Bichemie ausgestattet hatten, um sich den Bedingungen geringer Schwerkraft jeweils schnell anpassen zu können, verbrachten die erste Stunde im Weltraum schlafend. Währenddessen schwenkte die Raumfähre bedächtig herum, um bei der Tuamotu anzudocken. Ich hatte einen solch schwerwiegenden Eingriff wie die Ausstattung mit permanenter Bichemie abgelehnt – wie oft würde ich schon Gelegenheit haben, zwischen den Welten hin- und herzupendeln? – und mich für die temporäre Bichemie entschieden. Ich war die ganze Zeit über wach und merkte, wie mein Körper die tiefe Unsicherheit des kontinuierlichen Falls überwand.
Manches war anders als erwartet. Die schnelle Anpassung mit Hilfe der temporären Bichemie brachte eine Art Euphorie mit sich, die einerseits angenehm, andererseits auch beunruhigend war. Einige Minuten lang war ich ungeheuer erregt, sexuell erregt. Das ging allerdings vorüber, und ich spürte nur noch ein ständiges Kribbeln im ganzen Körper.
Bithras und Pak-Lee waren erst in Atwood eingetroffen, nachdem man mir meinen Platz zugewiesen hatte. Sie befanden sich irgendwo unterhalb von mir in der Raumfähre. Alice Zwei war fest in einer besonderen Koje für Denker verstaut.
Wenn man einen Denker von den Netzverbindungen abschnitt, dann wirkte das so ähnlich wie der Verlust aller Sinneswahrnehmungen beim Menschen. Während wir uns im Weltraum befanden, würde nicht einmal ein Zehntel der Fähigkeiten von Alice Zwei genutzt werden. Die Bandbreite der Kommunikation im Raum war so beschränkt, dass man Alice nicht an alle Netze anschließen und voll auslasten konnte. Natürlich würde sie nicht schlafen, sondern einen großen Teil der Reise damit verbringen, Ereignisse der irdischen und der marsianischen Geschichte aus ihrem großen Datenspeicher zu holen und miteinander zu korrelieren.
Man wusste inzwischen, dass Denker gewaltige und maßgebliche LitVid-Werke schaffen konnten, während sie sich in maschinellem Traumzustand befanden. Manche Leute behaupteten, die besten Historiker hätten nichts Menschliches mehr, aber ich war anderer Meinung: Alice Eins und Alice Zwei erschienen mir als durchaus menschlich. Alice bezeichnete ihre Kopie sogar als ›Tochter‹. Ich hatte vorher noch nie eng mit Denkern zusammengearbeitet und fand das rührend.
Während ich im Dunkeln auf meiner schmalen Liege saß und über mir eine Projektion der orangefarbenen und roten Oberflächen des Mars abrollte, fragte ich mich,
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