Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
kommen ins Gespräch, bei dem es bald darum geht, was Kunst bei ihnen traditionell heißt. Sie sind Angehörige der Kwakiutl, einem Volk, das Franz Boas, der berühmte deutsche Ethnologe, der in die Staaten auswanderte, bekannt gemacht hat. Deshalb weiß ich schon ein bisschen etwas über ihre markanten, sehr ästhetischen Artefakte.
Alle Kunst habe bei ihnen mit dem Glauben zu tun, betonen beide. Die bekanntesten Motive seien der Falke und der Biber, weil sie in den Mythen die zentrale Rolle spielen. Der Biber ist an den zwei großen Schneidezähnen, dem Schwanz, der runden Nase und prominenten Pfoten erkennbar. Der Falke wird immer so dargestellt, dass er einen Buckel hat. Der Kopf ist nach hinten gedreht und berührt den Körper. Weitere wichtige Tiere sind der Frosch und der Bär. Als ich einwerfe, dass es sich dabei ja um ihre Totemtiere handelt, lachen sie: »Jetzt haben wir fast das Wichtigste vergessen, unsere Totempfähle. Von denen gibt es aber auch nur noch ganz wenige.«
Ich bin hellwach und erzähle den beiden, dass ich bereits als Kind in Büchern über die Pazifikindianer geblättert habe. Ihre Kunst und die berühmten Potlatch-Feste, bei denen sich die Häuptlinge im Schenken überbieten, haben mich schon damals fasziniert. Diese Indianer ernähren sich vom Jagen, Sammeln und Fischen. Da die Meeresgründe an der Pazifikküste extrem fischreich sind, leben sie im Überfluss, obwohl es sich um eine nichtindustrielle Kultur handelt. Ethnologen haben für diese traditionelle Kultur, der es aber wegen der reichen Natur materiell an kaum etwas mangelt, die Bezeichnung »primitive Überflussgesellschaft« gefunden. Immer wieder habe ich mir Kataloge über die Kunst der Kwakiutl und anderer Gruppen ausgeliehen, später auch etliche gekauft. Daher weiß ich, dass die Kultur aller Nordwestküstenindianer durch und durch von Kunst geprägt ist.
Gerade die Kwakiutl sind berühmt für die Qualität ihrer Arbeiten und den charakteristischen Stil. Man erkennt diese Kunst sofort – an den intensiven Farben, den dargestellten Tieren und den ausgefüllten Flächen. Die Körper einer Figur, die Beine, sogar Füße und Hände sind mit zeichenhaften Elementen gefüllt: ein stilisiertes Auge auf einem Gelenk, ein menschliches Gesicht auf einem Tierkörper. Eine solche Überfülle kenne ich sonst nur von der Kunst aus Bali in Indonesien. Ein besonderes Merkmal der Nordwestküstenkunst ist die flächige Darstellung. Ein Gesicht eines dargestellten Tieres wird quasi in der Mitte aufgeschnitten, die Profile werden beidseitig abgeklappt. Man sieht nicht nur die Frontalansicht, sondern auch beide Seiten.
Ihre Häuser aus großen Planken von Zedernholz sind flächendeckend bemalt, vor ihnen stehen die berühmten hohen Totempfähle. In ihrer Nähe sind die langen bemalten Holzkanus am Fluss vertäut. Die vielen Dinge, die sie bei ihren ausschweifenden Festen in Massen vorführen, verschenken und konsumieren, gestalten sie ebenfalls kunstvoll und aufwendig: Masken, Holzkisten, Körbe, Stoffdecken, Waffen und Trommeln. Auch die Kwakiutl selbst sind oft bemalt mit Tätowierungen.
Wir unterhalten uns lebhaft über das Leben und die Kunst der Kwakiutl heute – und sind weit weg von Koons. Meilenweit. Gemessen an der Einbindung der Kunst in das alltägliche Leben bei den Kwakiutl fällt die Abtrennung dieser elitären Schau vom normalen Leben in New York erst so richtig auf. Mit dem rauen Alltag draußen an der Holland Avenue hat das hier wenig zu tun. Das Verbindende ist allenfalls die überall durchschlagende Kommerzialisierung. Das erscheint bei der indianischen Kunst, die das ganze Leben durchtränkt, ganz anders.
Als wir weiterreden, wirft einer meiner Gesprächspartner ein, beiden Kunstarten sei aber gemeinsam, dass man sie sofort wiedererkenne. Uns fallen Ähnlichkeiten zwischen den Kwakiutl und Koons auf. Beiden ist Material wichtig; es wird bewusst und gezielt gestaltet. Das gilt ebenso für andere Kunstformen, etwa die Körperbewegungen beim Tanz und die Töne bei der Musik. Im Mittelpunkt jeder Kunst steht Transformation. Kommt also bei der Liebe und Sorgfalt, mit der Laien ihre privaten Internetseiten gestalten, auch wenn andere sie grausig finden, Kunst heraus? In der Regel wohl nicht. Bei Kunst geht es immer um einen klaren Stil. Ob die Objekte bei Koons mit ihren glänzenden Oberflächen und der Übertragung ins Überdimensionale oder die Tiergestalten aus Holz der Kwakiutl in ihrer kontrastreichen, bunten und
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