Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
wird offiziell nicht gesagt. Man braucht kein Ethnologe zu sein, um zu wissen, dass es hier wohl ungeschriebene Gesetze gibt. Aber was besagen sie?
Ich frage meine Betreuer, was zu beachten ist. Ihr Rat: Ich soll meine Fachkompetenz als Ethnologe klarmachen, das Thema soll aber auch nicht zu ethnologisch sein. Vor allem wird mir stark abgeraten, irgendetwas Programmatisches anzubieten. »Häng dich bloß nicht zu weit aus dem Fenster«, »Theorie ist tödlich« sind die Ratschläge. Aber ich soll auch nichts empirisch Banales anbieten. Leicht irritiert höre ich mich bei Kollegen anderer Fächer um. Einige haben das Verfahren bereits hinter sich, mancher ist auch erst einmal gescheitert. So mangelt es nicht an guten Tipps, vor allem im Hinblick auf bestimmte Mitglieder des Gremiums: »Mach ja nichts Politisches«, »Die Philosophen können hart sein«, »Vermeide das Thema Kunst«.
Es gibt auch Tipps zum Vortragen: »Lesen Sie bloß vom Blatt ab. Beim freien Reden laufen Sie Gefahr, über die halbe Stunde zu kommen.« Eine der wichtigsten Regeln ist nämlich verblüffenderweise, die vorgegebene Zeit auch nicht um eine Minute zu überschreiten. Das hat auch praktische Gründe, denn die Fakultät muss noch jede Menge weitere Tagesordnungspunkte abarbeiten. Beim Nachbohren erfahre ich weitere ungeschriebene Regeln. Üblicherweise wird nur das erste oder zweite Thema gewählt. Das dritte Thema wird vom Prüfling oft nur angegeben, aber nicht wirklich vorbereitet. Die Empfehlung ist, ein »langweiliges« Thema zu nennen, dass auf jeden Fall abgelehnt wird, zum Beispiel ein extrem lokales Fallbeispiel. Ein Restrisiko bleibt. Wie beim ganzen Verfahren. Auch das dritte Thema wird manchmal gewählt.
Ich habe also systematisch nach sinnvollen Themen geforscht und mich nach längerem Ringen für drei entschieden. Das »Abschussthema« ist stark auf Süd-Sulawesi bezogen. Falls es doch genommen wird, bin ich aufgrund meiner Forschung gut im Material. Zehn Tage vor dem Vortrag bekomme ich einen Brief. Die Herren haben sich für Vorschlag eins entschieden: »Universalien: Forschungsproblematik und ethnologische Befunde«. Das Gebiet ist damals noch neu für mich, aber ich habe es genommen, damit mir die Vorbereitung bei all dem Stress auch ein bisschen Freude macht.
Die symbolische Zerstückelung
Alle Kulturen arbeiten bei Reiferitualen effektiv mit existenziellen Grunderfahrungen, indem sie das Ablegen der alten Identität dramatisch als symbolischen Tod inszenieren. Bei den Aborigines in Australien und in vielen Südseekulturen verfällt der junge Initiand in eine todesartige Starre, in Ostindonesien wird er symbolisch zu Grabe getragen. In anderen Weltgegenden weißt man die Person mit Asche oder Kalk wie die Toten. Ich trage für meinen Habilitationsvortrag Anzug und Schlips wie zu meiner eigenen Beerdigung. Wie muss ich den Rektor anreden, wenn ich anfange? Als »Spectabilis«, »Eure Spektabilität« oder »Magnifizenz«? Ich bin nervös und schon eine Stunde vorher da. Mein Wissen, dass der folgende Teil des Rituals die symbolische Zerstückelung darstellt und ich die irgendwie überleben werde, hilft mir jetzt wenig.
Der interne Vortrag ist der am meisten gefürchtete Schritt im ganzen Habilitationsritual. Ich habe in den letzten Jahren viele Erzählungen darüber gehört, wie leicht man hier »abgeschossen« wird. Häufig kennen sich die Herren im Gremium schon lange und bekämpfen einander seit Jahren erbittert. Die Vorträge der Nachwuchswissenschaftler sind willkommene Gelegenheiten in der akademischen Kampfarena. Hinderte der werte Kollege einen eigenen Kandidaten früher am Weiterkommen, kann jetzt zurückgeschlagen werden. Möglicherweise hat nach endloser Gremienarbeit mancher in der erlauchten Runde gerade zu diesem Zeitpunkt auch einfach keine Lust mehr. Der Frust kann sich unvorhersehbar entladen. Dann ist nach diesem Vortrag für den Bewerber erst mal Schluss. Genauer gesagt heißt es: »Gehe zurück auf Los.« Man darf noch einmal antreten, muss dafür aber neue Themen benennen.
Endlich geht es los. Ich soll hereinkommen. Bei Initiationsritualen schreitet ein Mensch öffentlich von einer Stufe des Lebens auf die nächste. Das gilt auch für akademische Rituale. Das Habilitationsritual ist eines der Statuserhöhung, aber kleine oder auch größere Erniedrigungen gehören dazu. Die rituelle Würdigung enthält immer auch »entwürdigende« Schritte. Der Lehrling bleibt man bis zum Abschluss der Zeremonie.
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