Heimat
Ministerpräsident Matthias Platzeck formuliert hat. 201 Es ging also darum, sich in einem Vakuum neu zu verorten.
Am einfachsten geschieht dies über Gruppenidentifikation, also mit der nach außen getragenen Selbstdarstellung: Wir sind eben anders - ein Mechanismus, der ja zwischen Bayern und Preußen seit Jahrhunderten funktioniert. Der Rückgriff der Ostdeutschen darauf löste dennoch Befremden aus, zumal die westdeutsche Mehrheit 20 Jahre nach der Wende auf die tatsächliche Angleichung der Lebensverhältnisse verwies. 2009 sorgte die Autorin Jana Hensel für Aufsehen mit ihrem Plädoyer »Warum wir Ostdeutsche anders bleiben sollten« im Buch »Achtung Zone«. Hensel argumentiert, dass die Ostdeutschen nicht nur in 40 Jahren Teilung, sondern auch in den 20 Jahren danach grundsätzlich andere Erfahrungen gemacht hätten als Westdeutsche. »Es gleicht dem Gefühl, schon einmal gestorben zu sein«, schrieb Hensel dazu im »Spiegel«. »Es ist die Erfahrung, dass es eben doch nicht funktioniert, ein Leben zum zweiten Mal so beginnen zu wollen, als sei es das erste. Weil man dieses Leben dann stets in ein Vorher und ein Nachher teilt und sich selbst zusieht bei diesen zwei Leben.« Die zentrale Frage: Wo komme ich her? Ist nicht einfach wegzudrücken. 202
Kritiker hielten Hensel ihren melancholischen Grundton vor, der »Jammer-Ossi« der Nachwendezeit sei wieder auferstanden. Tatsächlich galt die Ostalgie seit der Jahrtausendwende eher als spaßiges Phänomen, das zwar unverständlich, aber auch irgendwie putzig daher kam. Seit dem Erfolg des 2003 von Westdeutschen produzierten Films »Good bye, Lenin!« galt es sogar als Unterhaltung zur besten Sendezeit im deutschen
Fernsehen. Bei Quizshows wurden nun unter anderem Westdeutsche zu Details der DDR-Geschichte befragt, was Ostdeutschen die Identität stiftende Genugtuung des Mensch-das-weiß-man-doch gab. 203
Mangelware waren in diesem Findungsprozess einende, massentaugliche Symbole. Die Insignien der DDR waren zum größten Teil verschwunden und verbannt. Dass die DDR-Hymne »Auferstanden aus Ruinen« wegen ihres Texts in der SED kritisch beäugt worden war, öffnete ihr keineswegs das Türchen aus dem gesamtdeutschen Giftschrank der Geschichte. Ein Symbol jedoch gab es, hinter dem sich fast alle ehemaligen DDR-Bürger zu versammeln schienen, es war im Land der Widersprüche fast ausschließlich positiv besetzt und auch noch physisch vorhanden: der Palast der Republik. Keine Ossi-Wessi-Auseinandersetzung der Nachwendezeit scheint so frappierend wie die um das gigantische Haus des Volks am Berliner Marx-Engels-Platz. Im Nachhinein scheint es, als ob das ganze, der Heimat beraubte DDR-Volk sich in einer Art Palast-Patriotismus neu formierte.
»Die werden sich nicht trauen? Sie haben sich doch getraut, und wir konnten nichts dagegen tun«, klagte die Schriftstellerin Gisela Steineckert 2009. »Der Palast der Republik ist abgerissen worden, ich kann es nicht oft genug wiederholen. Ein Urteil wurde gefällt, Herr und Frau Großklotz, das in meiner Seele nicht ankommen wird, solange ich lebe.« 204 Erniedrigung ist ein Wort, das oft in dieser Debatte fällt, Demütigung, Siegerjustiz.
Selbst Friedrich Schorlemmer, oft sarkastischer Kritiker des »Arbeiterund Mauerstaats«, ergreift Partei für die »gigantomanische Rostlaube«, die Opfer einer »Asbesthysterie mit ideologischem Überbau« geworden sei: »Es ging in diesem Ost-West-Bruderzwist um weit mehr als um das Schicksal jenes Palastes, der sich in seiner Hässlichkeit sehr gut mit westlicher Architektur messen konnte. Das Messen mit zweierlei Maß führt dazu, dass die viel beschworene ‚innere Einheit‘noch länger auf sich warten lässt.« 205
Der Palast ist das vielleicht eingängigste Beispiel der in der Nachwendezeit konservierten Verständigungsblockaden beider Seiten, die bereits zur Eröffnung des Gebäudes 1976 anklangen. Während die SED-Führung über das in Rekordzeit von 32 Monaten errichtete, eine
Milliarde DDR-Mark teure technische Wunder Jubelarien anstimmen ließ, erregte sich in Bonn Olaf Baron von Wrangel, der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für innerdeutsche Beziehungen: »Mit diesem Bau soll unübersehbar die angemaßte Hauptstadtfunktion von Ost-Berlin unterstrichen werden.« Das dürfe keinesfalls stillschweigend hingenommen werden. Die West-Berliner Sängerin Katja Ebstein musste sich von der »Bild«-Zeitung schwere Vorwürfe anhören, weil sie zur Eröffnung des
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