Heimat
Palazzo Prozzo auftrat. 206
Die westdeutsche Kritik betonte stets die politische Funktion des Baus, in dem die Volkskammer in einem eigenen Saal tagte. Für die ostdeutschen Fans des Palasts schien dies Nebensache, zumal das Parlament ganze vier Mal im Jahr zusammentrat. Viel wichtiger schien die Funktion von »Erichs Lampenladen« als eine Art Tempel der Lustbarkeiten, in dem man sich Konzerte anhörte oder die eigene Hochzeit feierte. 60 Millionen Besucher wurden in den knapp 14 Jahren seines Betriebs registriert. 207 »Der Palast war kein Ort von autokratischer Macht, aber das hat von den Westpolitikern keiner begriffen«, sagt der frühere Berliner Kultursenator Thomas Flierl. »Ich glaube nicht an eine Verschwörungstheorie oder hinterhältige Geheimdiplomatie, der Palast wurde vielmehr ein Opfer - und das ist nicht weniger tragisch - von Ignoranz und der geschmäcklerischen Hybris der Mächtigen.« 208
Das Schicksal des Palasts mit damals 1.800 Mitarbeitern war jedenfalls schnell besiegelt. Am 29. Oktober 1990, keine vier Wochen nach der Vereinigung, verfügte das Bonner Kanzleramt in einer vertraulichen Note die Abwicklung von Personal und Haus. 209 Schon gut einen Monat vorher war der Palast während der laufenden Beratungen der Volkskammer über den Einigungsvertrag völlig überstürzt geschlossen worden. Anlass war ein seit dem Frühjahr angefertigtes Gutachten zur Asbestbelastung im Palast. Darauf hatten die SED-Führung und die Stasi schon länger ein Auge gehabt, waren doch zur Isolierung der Stahlträger gigantische Mengen Spritzasbest verbaut worden. Die Ergebnisse des neuen Gutachtens, angefertigt von einem Westberliner Ingenieurbüro, rief nun die Verantwortlichen auf den Plan: »Eine Schließung aus Gründen der erkannten Gesundheitsgefährdung duldet keinen Aufschub«, erklärte die zuständige Bezirkshygieneinspektion. 210
Die Tatsache, dass das Gutachten nicht vollständig öffentlich gemacht wurde und in den bekannten Zusammenfassungen widersprüchlich schien, war später Nährboden rankender Legenden. In jedem Fall konnten die heimatlosen Palastfans immer auf das Beispiel des Westberliner ICC verweisen, das vielen in seiner Hässlichkeit dem Palast ebenbürtig schien. Dessen Asbestbelastung bedeutete keineswegs das Todesurteil.
Das langsame Sterben des Palasts der Republik dagegen war nach 1990 offenkundig unabwendbar - ungeachtet der Demonstrationen, Petitionen und Deklarationen seiner Anhänger. Erstaunlich ist dabei im Nachhinein, wie lange sich das Siechtum hinzog. Obwohl schon 1993 der Bonn-Berlin-Ausschuss den Abriss offiziell beschloss, begann der, nach der völligen Entkernung und Zwischennutzung als Ausstellungs- und Theaterraum, erst 2006. Bis Dezember 2008 dauerte es, den Stahlkoloss Träger für Träger abzubauen.
Trotzdem war die Zeit zum Abschied wohl zu kurz, die Palast-Revolte scheint noch nicht ausgestanden - ebenso wenig wie der Streit über die guten und schlechten Seiten der DDR, die persönliche Erfahrung und die Entwertung vieler DDR-Biografien. Wie schrieb »Linkefrau« 2009 zu einer Fotocollage des Palasts im Internet: »Es geht einzig darum, alle Erinnerungen an die DDR auszulöschen. Es trifft nicht nur Gebäude, sondern auch die Bibliotheken werden ‚bereinigt’, Fabriken als unrentabel plattgemacht etc. Woran man sieht, wie viel Angst die Herrschenden noch zwanzig Jahre nach Verlust der DDR vor dieser haben.« Und »RoterBrandenburger« fügte an: »Eines Tages werden sie dafür bezahlen!« 211 Die Debatte überlagert zwei Jahrzehnte nach der Wende inzwischen jene über die Opfer des SED-Staats.
4. »Mit nichts als dem Schlüpper auf dem Arsch«: Von Ost nach West
Was zurückblieb:
Marias erste Locke.
Das Impfbuch des Kindes.
Das Tagebuch der Mutter.
»Das habe ich liegenlassen«, sagt Karola.
»Ist das nicht furchtbar?« 212
Es ist der 6. Mai 1978. Das Treffen ist vereinbart für 22.00 Uhr am S-Bahnhof Ostkreuz. Karola weiß noch nicht einmal, mit wem. Sie kennt nur die Losung. »Wollen Sie auch zum Tierpark?«
Ihre Tochter hat sie am Abend noch einmal schlafen gelegt. Das war das Schwierigste, sagt sie. All die Unruhe, die Nervosität, das Kind hat das natürlich gespürt. Erst konnte Maria nicht einschlafen, dann war es extrem schwierig, sie wieder aufzuwecken und in die Gänge zu bekommen. Mit ihren fast elf Jahren, vorpubertär und verschlafen, fing das Mädchen an zu maulen. Was ist denn jetzt schon wieder? Jetzt will sie wieder wohin,
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