Heimat
arbeiten.
Die nächste Gelegenheit zur Flucht bot sich 1961, unmittelbar nach dem Mauerbau. Karola war jahrelang von Ost- nach Westberlin gependelt, um im Grunewald auf das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster zu gehen. Die Familie war zwar nicht eigentlich politisch aktiv, aber christlich, und der Vater war nach Karolas Erinnerung aufmüpfig und als freier Fotograf suspekt. Später fand sie Aktenberge über ihn in der Stasi-Unterlagen-Behörde. »Dass wir nicht prosystem waren, war in der Straße hinlänglich bekannt«, erinnert sich Karola. Jedenfalls sahen die Eltern wohl geringe Chancen auf eine Oberschulbildung im Osten für ihre Tochter und setzten sie deshalb jeden Tag in die S-Bahn Richtung Westen.
Am 13. August 1961 war es vorbei. Wieder wurde über Flucht gesprochen. Die inzwischen 16-Jährige kannte über das Graue Kloster,
das bis heute als Eliteschmiede gilt, etliche reiche und einflussreiche Westberliner Familien. Es hätte sich ein Weg gefunden, ist sie sich heute sicher. Doch die Mutter wollte nicht weg. Sie hatte wohl vor allem Angst vor der illegalen Flucht.
So saß Karola, zwei Jahre vor dem Abitur, in Ostberlin auf dem Trockenen, abgeschnitten von ihren Freunden und von Bildung, denn die Schulbehörde befand, sie könnte sich nun mal in der Produktion bewähren. Abitur? Naja, vielleicht, irgendwann mal. Die Jugendliche fand sich bald in einer Wäscherei wieder, später in einem Altenheim. Das Abitur machte sie mühsam nebenbei auf der Volkshochschule.
Viel einfacher wurde es auch danach nicht. Sie fing ein Theologiestudium im Sprachenkonvikt der evangelischen Kirche an, brach es aber wegen der strengen kirchlichen Berufsvorgaben für Pastorinnen ab. Sie ließ sich zur evangelischen Gemeindehelferin ausbilden, sie heiratete, 1967 kam Maria auf die Welt. Kurz nachdem sie die Ausbildung beendet hatte, war Karola aber auch schon wieder geschieden. Immerhin fand sie eine Stelle als Sachbearbeiterin in der Verwaltung der Humboldt-Universität. Doch da saß sie nun, mit Mitte 20, und dachte: Das soll es wirklich schon gewesen sein?
Für ein normales Studium hatte sie mit der kleinen Maria zu wenig Zeit und zu wenig Geld. Schließlich bewarb sie sich in Dresden um ein Fernstudium. Diesmal entschied sie sich für Informationsverarbeitung, weil sie immer gut in Mathe gewesen war. Wieder rollte ihr der Staat Steine in den Weg: Die Uni Dresden lehnte sie ab. Wieder boxte sie sich durch, mit Hilfe zweier Professoren der Humboldt-Uni. Nach viereinhalb Jahren hatte sie tatsächlich ein Diplom als Computerfachfrau in der Tasche. »Dann wollte mich niemand anstellen«, erinnert sie sich bitter. Nur über Vermittlung eines Bekannten fand sie schließlich eine Stelle in der EDV-Erfassung im Tiefbaukombinat, ganz in der Nähe der Fischerinsel in Berlin-Mitte, wo sie damals wohnte.
Und trotzdem Flucht, ausgerechnet jetzt?
»Ich wollte nach dem Mauerbau weg, und ich wollte weg, als Maria geboren wurde, und bevor Maria in die Schule kam, und dann, als Maria zehn war, denn sie sollte unbedingt auch auf das
Evangelische Gymnasium gehen«, sagt Karola. Inzwischen war ihr Vater, der Fotograf, als Rentner in den Westen übergesiedelt. Karolas Ex-Mann war ebenfalls geflohen, ebenso wie etliche Freunde - darunter Norbert, ihr späterer Fluchthelfer. Deswegen tauchte die Stasi mehrfach bei ihr auf, die jungen geschniegelten Spitzel drängten sie, ihren Briefkasten für konspirative Post zur Verfügung zu stellen. Warum? Sie hat bis heute keine Ahnung. Vermutlich nur, um sie einzuschüchtern - der SED-Staat zeigte Muskeln, ohne zuzuschlagen. »Ich habe immer mehr Angst gehabt«, erinnert sich Karola. Nicht ohne Grund. In den Stasi-Unterlagen fand sie nach der Wende sieben Ordner über sich, angefangen mit dem zwölften Lebensjahr, als sie noch nach Westberlin pendelte. Ihr letzter Liebhaber in der DDR war auch ihr IM.
Mit der Angst war es endlich vorbei, als sie in jener Nacht im Mai in der Kochstraße hinter dem Checkpoint Charlie in Norberts Auto stieg. Dennoch beschäftigte sie das Spurenverwischen noch jahrelang. In der ersten Zeit ließ sie sich alle Briefe aus der DDR unter dem Namen einer Bekannten an deren Adresse schicken. Im Westberliner Notaufnahmelager Marienfelde verschleierte sie den Tag ihrer Flucht, sie log über ihren wahren Fluchtweg, weil sie wusste, dass in Marienfelde Stasi-Spitzel saßen. Die Geschichte mit dem Peugeot 405 erzählte sie jahrzehntelang niemandem. Sie schnitt den gesamten
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