Heimat
und ich muss mit, ach Mama. »Nimm dir dein Lieblingskuscheltier mit, wir müssen los«, beschwört Karola ihre Tochter. Schließlich greift sich das Kind einen Hasen. Karola hat nur ihre Handtasche.
Sie sind zu früh am Ostkreuz. Es ist niemand zu sehen. Plötzlich ist da ein Moment Leerlauf, zu viel Zeit für Erklärungen. Die Mutter will ihr Kind endlich einweihen, vorbereiten, auf das was kommt, dem Mädchen die Angst nehmen, was auch immer. Nach all den Monaten in einem immer komplizierteren Lügengebäude hält sie das Schweigen nicht mehr aus, so kurz vor dem Ziel. »So, weißt du, wir besuchen jetzt die Tante Emmy im Wedding, und die Omi ist dann auch dort«, verkündet sie ihrer Tochter, im Plauderton. Wedding? Wie soll das gehen. Wir sind im Osten und das ist im Westen. Maria sagt nichts. Sie greift nur die Hand ihrer Mutter. Die Hand des Kindes ist schweißnass.
»Wollen Sie auch zum Tierpark?« Es ist ein Mann in einer Nato-Pelle,
der sie anspricht, einem dieser raschelnden Synthetik-Mäntel, die sind groß in Mode. Der Mann hat ein Foto von den beiden. Er führt sie zu einer nahen Laubenkolonie, es ist fast dunkel, nur vereinzelt funzeln irgendwo Straßenlampen. Auf einem Seitenweg warten die drei auf den Wagen. Er kommt mit abgeschalteten Scheinwerfern, ein Peugeot 405 mit Diplomatenkennzeichen. Am Steuer sitzt ein dunkelhäutiger Mann.
Erst steigt der Typ mit dem Raschelmantel in den Kofferraum, auch er will an diesem Abend fliehen. Dann das Kind, zum Schluss Karola. Zu dritt im Kofferraum eines Peugeot 405. Als sie wie die Sardinen einsortiert sind, befällt Karola ein grotesker Gedanke: eigentlich gar nicht so unbequem. Später erfährt sie, dass das Auto präparierte Stoßdämpfer hat, damit es nicht unter der Last in die Knie geht. Im Kofferraum brennt ein kleines Licht, was der jungen Frau allerdings eher Sorge macht. Sie befürchtet, man könnte es von außen sehen. Maria hasst den Mann im Raschelmantel. Sie hat solche Angst, dass das Rascheln sie verrät.
Karola kennt Berlin, sie weiß, wie der Wagen jetzt fahren wird. Die Stalin-Allee, die Warschauer Straße, die Stralauer Allee und hin zum Checkpoint Charly. Sie weiß sogar ungefähr, wie der Grenzübergang aussieht, dass am Ende Schlangenlinien um die Panzersperren kommen. Der Wagen umkurvt sie langsam, stoppt, rollt langsam weiter, stoppt wieder.
»Machense mal den Kofferraum auf«, hören die drei Flüchtlinge die Zöllner.
Der Fahrer fängt an zu diskutieren. Schließlich darf er den Wagen ein Stück weiter fahren, bevor er den Deckel aufmacht. Es sind bereits die westdeutschen Grenzbeamten, die die drei außer Sichtweite der DDR-Soldaten in Empfang nehmen.
Um die Ecke wartet Norbert, der Fluchthelfer. Er nimmt Karola und Maria erstmal mit zu sich. Karola sitzt auf dem Beifahrersitz, das Kind hinten. Noch heute macht die Mutter sich Vorwürfe, dass sie nicht auf der Rückbank ihre Tochter in den Arm genommen hat. Das Mädchen spricht stundenlang kein Wort.
Es wird mehr als zehn Jahre dauern, bis Maria endlich ihren Frieden mit dieser Flucht macht, über die ihre Mutter jahrelang immer wieder nachgedacht und die sie dann über Monate hinweg minutiös vorbereitet hatte. »Sie wollte natürlich nicht weg von ihren Freunden, sie hat ihre Spielsachen vermisst und ihr Zuhause«, weiß Karola heute. Heimatlos in Westberlin, »mit nichts als dem Schlüpper auf dem Arsch«, wie sie selbst sagt, mit 35.000 D-Mark Schulden für den Fluchthelfer - das war schon der Freundschaftspreis, weil sie Norbert lange kannte. Weshalb das alles?
Es fing wohl alles mit einer ganz anderen Fluchtgeschichte an, die von Karolas Mutter. Hochschwanger in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, folgte sie dem Rat ihres Arztes, sich aus dem schwer umkämpften Berlin in Sicherheit zu bringen. So wurde Karola im April 1945 in einer Skihütte im Riesengebirge geboren. Als die Nachkriegswirren sich lichteten, machte sich ihre Mutter im Sommer zu Fuß auf den Rückweg, das Baby im Tragetuch an ihrer Brust. Bis nach Cottbus marschierte die junge Frau zusammen mit einer Freundin, bis alle schließlich einen Platz auf einem Güterzug Richtung Norden ergatterten und sich bis zur alten Wohnung in Friedrichshain im Ostteil Berlins durchschlugen. Schon damals war die Rede davon, sich in den Westen abzusetzen. Doch der Vater, der nach dänischer Kriegsgefangenschaft in Hamburg gelandet war, wollte zurück nach Friedrichshain. Er wollte wieder als Fotograf
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