Heimat
sofort erregte Debatten aus, 194 ähnlich wie ein Jahr zuvor eine Studie des Politologen Klaus Schroeder, die Schülern ein erschreckend geringes Wissen über die DDR attestierte. 195 »Ich frage mich: Wenn die DDR mehr gut als schlecht war, warum sind denn die vielen ehemaligen DDR-Bürger nicht einfach im Ostteil Deutschlands geblieben?«, kommentierte zum Beispiel Leser Klaus Berg die Emnid-Ergebnisse auf Focus.de . Worauf sich »Kompasskralle« mit der Aussage zu Wort meldete: »Wir wollten Meinungs- und Reisefreiheit und die D-Mark. Euren Kapitalismus wollten wir nicht, den hat uns Kohl aufgezwungen.«
Vom digitalen Kopfschütteln westdeutscher Oberstudienräte unbeeindruckt, schwelgen ehemalige DDR-Bürger bei Liedern von früher auf YouTube in Erinnerungen. »Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer …« oder »Der kleine Trompeter«, »Bau auf, bau auf« und »Die Partei hat immer recht«. Unter einer mit Bildern von Blauhemden, Erntemaschinen und NVA-Soldaten unterlegten Version von »Ich liebe mein Land«, die übrigens am Ende den Satz »Und nein: Die DDR war nicht pleite, glaubt nicht die Lügen der BRD-Propaganda« 196 einblendet, schrieb zum Beispiel »Transnationz1« Anfang 2010: »Meine Kindheit in der DDR war die schönste Zeit in meinem Leben und ich werde sie nie vergessen.« Was Diskussionsteilnehmer »killerinstinktful« nur unterstützen konnte: »Wessis sind doch nur sauer, weil sie diese schöne Zeit
nie erleben durften und niemals erleben werden. DDR, ich hoffe du kommst wieder.« 197
Der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe sieht als Ausgangspunkt der nun schon seit den 90er-Jahren rollenden Ostalgie-Welle einen »Kommunikationsstau« - viele Ostdeutsche fanden sich in der öffentlichen Debatte über die DDR schlicht nicht wieder. Es sei deutlich geworden, dass die »vor allem in den Medien und in der Politik kursierenden Beschreibungen von Ostdeutschen und ihrem Leben in der DDR nur punktuell mit den Erfahrungen des größten Teils der ostdeutschen Bevölkerung zusammengingen«, meint Ahbe. »Die Konzentration auf die Verbrechen und Missstände in der DDR entsprach eher den Erfahrungen einer Minderheit, eben jener Menschen, die in besonderer Weise unter den Repressionen und Einengungen gelitten hatten.« Diese Gruppe habe aber nur etwa 20 Prozent der DDR-Bevölkerung ausgemacht, schätzt Ahbe auf Grundlage der Anträge auf Stasi-Akten-Einsicht. 198 Die übrigen vier Fünftel der früheren DDR-Bevölkerung blieben in der Debatte außen vor und mit ihren Erinnerungen vorerst allein. Dass es einen ganz normalen, banalen Alltag mit kleinen Freuden und Nöten gegeben hatte, ging in der Opferdebatte unter.
Ein Ventil bot bald die Rückbesinnung bei Ostalgie-Partys oder die Suche nach den verschwundenen Ostprodukten. Diese erlebten schon Anfang der 90er-Jahre eine Renaissance. Ende 1992 gaben in einer Marktstudie 41 Prozent der ostdeutschen Befragten an, hauptsächlich das Spülmittel Fit zu verwenden, während die Westmarken Pril und Palmolive im Osten nur auf jeweils 26 Prozent kamen. Das Waschmittel Spee, inzwischen vom Düsseldorfer Henkelkonzern produziert, wurde von 62 Prozent als Favorit genannt. 199 Bis Ende der 90er-Jahre fanden sogar Marken reißenden Absatz, die zu DDR-Zeiten nur mit Spitzen Fingern angefasst wurden. So hatte die Kaffeemarke Rondo, die Ende der 70er-Jahre wegen Devisenmangels mit minderwertigen Bohnen gestreckt worden war, zu DDR-Zeiten ein massives Imageproblem. Als »der gute alte Rondo« 1997 wieder auf den Markt kam, sprengte der Erfolg jedoch die kühnsten Träume seiner Produzenten. Hersteller Röstfein in Magdeburg präsentierte begeisterte Kundenzuschriften: »Ich bin in Freudentränen ausgebrochen, der gute alte Rondo!« Ahbe sieht darin eine »Konstruktion«
als Antwort auf die öffentliche Abwertung des in der DDR gelebten Lebens. 200
Tatsächlich kann man das Phänomen auch als Suche nach Heimat verstehen, und zwar mit zwei Aspekten, die beim Thema Heimat fast immer eine Rolle spielen: Rückwendung zur eigenen (Kindheits)-Geschichte und Abgrenzung gegen andere. Hunderttausende hatten, nun mit einigen Jahren Abstand, das Bedürfnis, sich ihrer eigenen Erinnerungen zu vergewissern und an Haltepunkten anzuknüpfen. Denn sie mussten nicht nur das übliche biografische Verschwinden bearbeiten - die Tatsache, dass Kindheit und Jugend eben vorbei sind -, sondern das tatsächliche: »Die DDR ist mausetot«, wie es der brandenburgische
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