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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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1953 noch einmal 220.000. »Immer schmerzlicher waren die Lücken, die die Flüchtlinge in Wirtschaft und Gesellschaft hinterließen«, schreibt der Historiker Helge Heidemeyer. »Die Fixierung der Machthaber auf die Fluchtbewegung wurde zur ‚Manie’.« 214

    Die Aufnahmebereitschaft der Westdeutschen war trotz aller Schwüre des Zusammenhalts zurückhaltend. Die Bonner Regierungslinie versprach allen Flüchtlingen den bundesdeutschen Pass, gemäß der Rechtsauffassung, dass das Grundgesetz auch für DDR-Bürger galt. Bald meldeten sich jedoch Kritiker zu Wort. Das Boot sei voll, befand bereits 1950 der Bundestagsabgeordnete Ernst August Farke von der Deutschen Partei. Der FDP-Politiker Karl-Heinz Naase richtete über den Radiosender RIAS einen Appell an die Ostdeutschen, »die Heimat nicht ohne letzte Not« zu verlassen. Würde die »Zone« von freiheitlich gesinnten Deutschen entblößt, schwände die Hoffnung, das Ostberliner Herrschaftssystem bald zu beseitigen, argumentierte er. Ähnlich äußerte sich das Ministerium für
gesamtdeutsche Fragen, das um die Wiedervereinigungsperspektive bangte. 215 Mehrheitlich sah die Bonner Politik die Übersiedler aber positiv, zumal Arbeitskräfte bald dringend gebraucht wurden. 1950 wurde das Notaufnahmegesetz verabschiedet, das den Neubürgern eine Reihe sozialer Wohltaten versprach.

    Die SED-Führung versuchte derweil, die Massenabwanderung in den Griff zu bekommen. 1952 riegelte sie die innerdeutsche Grenze ab. Nicht gestopft wurde jedoch das Schlupfloch Berlin. Zwischen den Sektorengrenzen blieb der kleine Grenzverkehr weitgehend unbehelligt - es war keineswegs die Ausnahme, per S-Bahn von der Wohnung im Osten zur Schule im Westen zu fahren. Zehntausende nutzten die Lücke zur Flucht. Vor allem nach der Rebellion vom 17. Juni 1953 stiegen die Zahlen sprunghaft. Das Notaufnahmelager Marienfelde platzte aus allen Nähten. 216 Im Monat vor dem Mauerbau beantragten 30.415 DDR-Flüchtlinge die Aufnahme. Allein am 12. August 1961 meldeten sich 2.400 Personen in Marienfelde. 217 Die von der Sowjetunion abgesegnete strikte Abriegelung der Sektorengrenze tags darauf machte dem ein Ende - jedenfalls weitgehend. »Der Bau der Mauer stürzte viele Menschen in der DDR in Verzweiflung«, schreibt Heidemeyer. »War die Option, die DDR zu verlassen, oft auch nur theoretisch bedacht worden, so trat nun an ihre Stelle ein Gefühl des Ausgeliefertseins, des Eingesperrtseins.« 218 Für die DDR-Führung erfüllte sie jedoch den Zweck, den Staat zu stabilisieren.

    Erst nach dem Beitritt zur UN und nach Abschluss der KSZE-Verhandlungen Mitte der 70er Jahre, bei denen die DDR diverse Menschenrechtsgarantien abgab, rückte das Thema Ausreise in Ostdeutschland wieder in den Mittelpunkt. DDR-Bürger beriefen sich nun zunehmend auf die Schlussakte von Helsinki, die unter anderem Freizügigkeit garantiert. Das Recht, Anträge auf »ständige Ausreise« zu stellen, wurde allerdings erst 1983 per Verordnung geregelt, und die Zahl der Übersiedler blieb bis dahin verhältnismäßig klein. 219 Weniger als 1.000 Menschen pro Jahr gelang nach Akten des Ministeriums für Staatssicherheit in den 70er Jahren die illegale Flucht. 220

    In Westdeutschland war das Thema DDR-Abwanderung angesichts der kleinen Zahlen und inmitten der Entspannungspolitik kaum
noch von Interesse. 221 Erst als mit der gelockerten Ausreisepraxis der 80er-Jahre wieder mehr Übersiedler kamen, nahm sie die Öffentlichkeit zur Kenntnis. So befasste sich im Sommer 1985 der Bundestagsausschuss für innerdeutsche Beziehungen mit der »Situation der Übersiedler aus der DDR«. Die »Zeit« stellte danach bedrückt fest, dass sich die Neubundesbürger als »Fremde im eigenen Land« fühlen müssten. Neben zunehmendem Misstrauen der durch Massenarbeitslosigkeit verunsicherten Westdeutschen, vermerkt der Autor auch Mentalitätsunterschiede.

    Die Übersiedler klagten über Vorurteile, Gefühlskälte, mangelnde menschliche Wärme, Ellenbogenmentalität und Leistungsdruck - eine Art Vorgeschmack auf eine massenhafte Erfahrung nach der Wende. »Nur eine ausgesprochene Minderheit fühlt sich nach einem Jahr im Westen von den Bundesbürgern bereits aufgenommen und daher hier heimisch«, zitiert der Autor Befunde aus einer Infratest-Studie. 222 Der westdeutsche Arbeitsmarkt wurde in den 80er Jahren für die Ostdeutschen ein zunehmend schwieriges Terrain. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 1985 waren

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