Heimat
Ostteil ihrer Biografie einfach ab. »Wir haben nie gesagt, dass wir aus dem Osten kommen.« Sie wollten nicht mehr fremd und klein und zweitklassig sein.
Die ersten Tage im Westen hatten sie »schwer gedemütigt«: der Behördenlauf, bevor sie einen Pass bekam, der Antrag auf Arbeitslosenhilfe, der ewig nicht durchging, der »Gang nach Canossa« auf das Sozialamt Wedding. »Es war ja nicht so, dass die irgendeiner Osttrude die Stellen hinterher geschmissen haben«, erinnert sie sich. Die Computertechnik war im Westen weiter. Bei ihrer ersten Stelle in einem Westberliner Rechenzentrum musste sie sich durchmogeln, bevor sie sich abends zuhause auf den letzten Stand gebracht hatte.
Ob letztlich alles gut wurde für Karola und Maria, ist auch drei Jahrzehnte später schwer zu sagen, obwohl Mutter und Tochter nach vielen Maßstäben im Westen ein erfolgreiches Leben leben - viele Freunde, gute Arbeit, bescheidener Wohlstand. Karola ist eine distinguierte Frau von 65 Jahren, gepflegt und geistreich, fordernd und frech. Aber die
Vergangenheit lässt sie nicht los. »Ich habe einen tiefen DDR-Hass«, sagt sie. »Hier, das sagt alles…«: Sie zeigt die rechte Hand, die sie beim Erzählen zur Faust verkrampft hat.
Obwohl der SED-Staat schon vor zwanzig Jahren an sich selbst zugrunde ging, lassen sie die vielen Schicksale nicht los. Der Freund, der in Rummelsburg einsaß und als heulender Mann zurückkam. Der Bekannte, der nach dem Mauerbau buchstäblich verrückt wurde. »Der Hass geht nie vorbei, der reicht für das ganze Leben.«
Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte. »Die DDR war meine Heimat«, sagt Karola, einigermaßen überraschend. Nach einem halben Leben in Ostberlin war es plötzlich unerreichbar - nur drei Kilometer von ihrer neuen Wohnung in Schöneberg entfernt, aber es gab keinen Rückweg. Und auch keine Chance zu trauern. »Ich durfte ja gar nicht bereuen«, sagt Karola über die ersten Jahre in Westberlin. Der Osten weg, der Westen unnahbar, dazwischen irgendwo die Heimat als Phantom. »Es ist ein schwieriges Thema«, sagt die 65-Jährige, »vor allem für mich, mit meiner zweifach gebrochenen Biografie.«
Als sie Maria nach der Flucht wirklich in ihrer alten Schule, dem Evangelischen Gymnasium, anmeldete - knapp 20 Jahre nach ihrem eigenen unfreiwilligen Abgang -, traf sie zufällig ihren früheren Griechisch-Lehrer, den Mädchenschwarm von damals. Der sagte: Sind Sie nicht…? Nur der Nachname war ihm entfallen. »Da hatte ich so ein Gefühl, das kann doch nicht sein, nach all der Zeit«, sagt sie, die Stimme für einen Moment brüchig. »Diese Schule, die war für mich Heimat.«
Rund drei Millionen Menschen siedelten in den 40 Jahren DDR von Ost nach West über 213 - 30 Großstädte oder einmal Hamburg plus München, verschoben, entwurzelt, verpflanzt. Obwohl die meisten in den ersten 15 Jahren nach Kriegsende bis zum Mauerbau 1961 kamen, als noch das kollektive Gefühl des Neuanfangs einte und sich die westdeutsche Gesellschaft auch weit weniger hermetisch präsentierte als später, bedeutete dies für beide deutsche Staaten eine unglaubliche Unruhe.
Für die DDR blieb der Exodus ein Trauma. Das Bleiben oder Gehen war bis zum Schluss das Leitmotiv des SED-Staates. Die scheinbar einbetonierte Gesellschaft mit all ihren Regeln und Meldepflichten und Stoppsignalen, die de facto so wenig Bewegungsfreiheit bot, beherbergte Millionen auf mental gepackten Koffern, sie gebar ein Ritual der Rastlosigkeit als psychologischen Ausweg aus der verordneten Heimat. Für jene, die tatsächlich gingen, handelte es sich letztlich um eine seltsame Sonderform des Exils: eine Flucht von Deutschland nach Deutschland, innerhalb desselben Kulturraums, als Teil derselben historischen Schicksalsgemeinschaft, von einem Fetzen der geteilten Heimat zum anderen. Doch stellte sich über die Jahrzehnte heraus, dass die Heimat eben nicht einfach geteilt war, sondern doppelt. Die DDR-Flüchtlinge landeten in einer nur scheinbar heimatlichen Fremde - ein historisch vielleicht einmaliges Konstrukt.
Die erste große Ost-West-Flüchtlingswelle schwappte bereits in der Besatzungszeit - einer ohnehin orientierungslosen Phase, in der Millionen von Kriegsheimkehrern, Ostvertriebenen und Ausgebombten versuchten, irgendwie wieder auf die Füße zu kommen. Doch drosselte auch die Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 den Strom kaum. Allein 1952 gingen 300.000 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik, im ersten Halbjahr
Weitere Kostenlose Bücher