Heimaturlaub
Deutschnationalen – er wollte sterben, weil er sein geliebtes Deutschland vor dem Ende sah.
Jetzt stand der Sohn vor dem Bild, strich leise mit der Hand über die blanke Glasscheibe und sah seinem Vater tief in die Augen.
»Du hattest recht, Vater, recht wie immer«, sagte er leise. »Ich wollte es damals nicht glauben … Aber heute weiß ich, daß jede Stunde dieses Krieges alles nur noch schlimmer macht. Und ich selbst unterstütze die Verbrecher sogar, weil ich feige bin, weil ich Angst habe vor dem Massengrab und mich mit der Lüge verdumme, trotz aller Unmenschlichkeit um mich herum müsse ich durchhalten – dem Vaterland zuliebe. Ich weiß, was du jetzt sagen würdest: Hör auf, mein Junge, geh lieber Steine klopfen oder Straßen kehren als der Lüge Beistand zu leisten. O Vater, du kennst unsere Zeit nicht. Wer diesem Staat den kleinen Finger reicht, der verliert nicht nur die ganze Hand, sondern seinen Kopf. Heute heißt es nicht mehr Pressefreiheit, sondern Konzentrationslager; nicht mehr eigener Wille, sondern Gestapo; nicht mehr freies Menschenrecht, sondern Massengrab. Ja, Vater, du staunst. Manchmal beneide ich dich, daß du rechtzeitig sterben durftest. Du hast den besseren Teil erwählt … aber warte nur, Vater, auch ich komme bald, ich fühle es … so lange warte und tröste Mutter … ist dann alles vorbei, bin ich wieder bei euch!«
Wüllner wartete ein wenig, als könnte das Bild ihm eine Antwort geben, dann drehte er sich um und ging im Zimmer hin und her. Er steckte sich dabei eine neue Zigarette an und sah den kleinen Rauchwolken nach, die fein sich ringelnd zur Decke stiegen. Unwillkürlich mußte er dabei an Frau Lancke denken, die ihm das Rauchen im Speisezimmer untersagt hatte, weil die Spitzengardinen darunter leiden würden.
Heinz schüttelte den Kopf. Da hatte man nun eine große Wohnung, Speisezimmer, Herrenzimmer, Musikzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, eine große Küche, ein Damenzimmer, Balkone, eine Sonnenterrasse, Bad und allen Komfort – und lebte nun schon jahrelang allein in dieser Umgebung, die nach einer jungen Frau rief, einer Frau, die vielfältiges, junges Leben in diese dumpfen Räume tragen konnte.
Er dachte an Hilde. Hatte er es gefunden, dieses Leben? Den Glanz der unbekümmerten Jugend? Durfte er froh sein und aufatmen im Glück? Ja, er konnte jetzt eine Frau in seine Wohnung holen, aber was hatte das für einen Zweck? Morgen früh war alles zu Ende, war vielleicht der Tod sein ständiger Begleiter. Dann ging er auf die große Fahrt ins Unbekannte, und dann hatte dies alles keinen Sinn gehabt, diese ganze große Liebe zu Jugend und Freiheit, zu Glück, Erfüllung und Ziel seines Lebens. Dann war er nur ein Körper, der zerfiel, und der mit seinem faulenden Fleisch die Felder düngte. Dann stand sie allein in der Welt, trauerte Hilde um ihn mit der ganzen Kraft ihrer liebenden Seele, und doch war alles so sinnlos, weil eben diese Zeit es nicht erlaubte, ein Glück zu suchen! War es nicht unverantwortlich von ihm, ein Mädchen wie Hilde an sich zu binden? Durfte er ihre Jugend mit Trauer und Entsagung vergiften, ihr alle Ideale rauben, nur um sagen zu können: Ich liebe dich, du bist meine Frau?!
Frau Lancke trat ins Zimmer und sagte schlicht:
»Die Unterhose hat ein Loch!«
Auf Wüllner wirkte dieser nüchterne Satz aus dem realen Leben wie ein eiskalter Wasserstrahl. Er fuhr herum und schrie:
»Lassen Sie mich mit Ihren Unterhosen in Ruhe!«
Aber Frau Lancke war nicht einzuschüchtern.
»Es sind Ihre Unterhosen, nicht meine. Aber wenn Sie Löcher tragen wollen – von mir aus. Sind eigentlich alle Künstler so schlampig?«
Wüllner setzte sich auf die Lehne eines Sessels.
»Frau Lancke, können Sie sich nicht denken, daß ich gerade am heutigen Abend andere Gedanken habe?«
»Das schon, aber Sie sollten den traurigen Gedanken nicht nachgeben. Ein Mann muß sich immer im Leben um das Nächste kümmern.«
Wüllner lachte. »Sie haben recht wie immer.« Dann legte er den Arm um Frau Lancke und sagte:
»So, ehe ich jetzt gehe, will ich mir mit Ihnen noch einmal meine Wohnung ansehen … in die hoffentlich bald eine junge Frau einzieht.«
Langsam gingen sie durch das Speisezimmer mit seinen schweren Nußbaummöbeln im Barockstil, durch das Musikzimmer, in dem ein großer Blüthnerflügel in weißem Chippendalestil stand, das Schlafzimmer in Kirschbaum, das Damenzimmer in lichtem Rokoko und das Arbeitszimmer aus einfachem Eichenholz, asketisch und
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