Heimaturlaub
schön – aber wie kann man an ihn heran?«
Ernst, der resolute Maler, verfehlte zwar den Ton, aber seine Direktheit hatte eine verblüffende Wirkung.
Ministerialrat Dr. Elbers schlug ein Aktenstück auf und sagte:
»Wüllner steht mit mir auch in Privatkorrespondenz. Erst vor wenigen Wochen erhielt ich einen Brief, in dem er schreibt: Lieber Elbers, ich mache mir redliche Sorgen um meine kleine Frau. Ich kann ihr nicht schreiben, wie ich hier lebe und was uns das Schicksal auferlegt. Ich möchte sie nicht kränken und in Sorge stürzen … mag sie trauern um meine Schweigsamkeit, es ist besser als das, was sie nicht weiß. Und lügen kann ich nicht vor ihr, sooft ich auch im Beruf zu lügen gezwungen bin. Nur erfüllen Sie mir einen Gefallen: Passen Sie ein wenig auf mein Frauchen auf, berichten Sie mir, wie es ihr geht.«
Dr. Elbers sah auf. »Sie sehen, Ihr Freund Wüllner denkt durchaus an seine Braut. Er hat nur den seltsamen Komplex, Briefe an seine Hilde könnten sie mehr verwirren und unglücklich machen als freuen. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihm diesen Unsinn auszureden. Schreiben Sie ihm, ich gebe Ihnen die Adresse. Hier, schreiben Sie das ab!«
Er schob den dreien ein Kuvert hin mit Wüllners Adresse. Ernst schrieb sie fein säuberlich und genau ab. Weil er der Meinung war, die Chirurgen- und Chemikerhandschrift, diese unglaubliche Kritzelei, sei hinterher ja doch nicht mehr zu entziffern.
Am gleichen Abend entstand bei Borchardt in einem kleinen Hinterstübchen für Weinkenner ein Brief, den drei Männer gemeinsam aufsetzten und der diesen gelehrten Köpfen eine solche Mühe machte, daß der Ober nicht schnell genug den Wein bringen konnte, um die erhitzten Geister zu kühlen.
Wie es der Zufall wollte: An genau demselben Tag erlebte Hilde eine der schönsten Stunden ihres Lebens.
Als sie nämlich gegen Abend in die Wohnung kam, wie immer mit einem lauten »Ich habe einen Bärenhunger«, da tat Frau Lancke ganz geheimnisvoll und führte sie an der Hand ins Arbeitszimmer Wüllners.
Verblüfft sah Hilde auf dem Tisch eine brennende Kerze und einen Tannenzweig. Frau Lancke deckte den Zweig auf und sagte:
»Es hat lange gedauert. Februar ist es geworden. Aber was zu Weihnachten kommen sollte, kommt nie zu spät.«
Da lag auf dem Tisch ein kleiner Brief. Ein schlichter, einfacher, kleiner Brief an Hilde Brandes, Berlin-W. Da leuchtete die Kerze heller und wuchs zum Licht, das die ganze Stube anfüllte. Und ganz von fern hörte Hilde einen Schrei, der klang, als sei es ihre Stimme: »Heinz! Heinz, mein Heinz … mein Heinz …«
Leise klappte eine Tür ins Schloß, und Frau Lancke schlich sich in die Küche.
In dieser Nacht saß ein Mädchen allein in der Einsamkeit der großen Stadt und las und las, immer und immer wieder, küßte jedes Wort, jeden Buchstaben, weinte und jubelte.
Für den nächsten Abend rief Hilde ihre Freunde zu sich in Wüllners Wohnung. Sie sagte nicht, warum, aber sie kamen alle: Rolf, der Mediziner; Willi, der Chemiker; der Maler Ernst, der seine Ellen mitgebracht hatte und einen Skizzenblock dazu, da er sich einbildete, er sei ein zweiter Menzel; und schließlich auch Oma Bunitz.
Als sie alle rund um den Volksempfänger saßen, nahm Hilde aus der Schreibtischlade Wüllners Brief heraus. Sie sah dabei nicht die erstaunten Gesichter des Triumvirats, das bei Ministerialrat Dr. Elbers und nachher bei Borchardt erbittert um das gekämpft hatte, was zu gleicher Zeit ins Haus flatterte. Und Rolf flüsterte Ernst zu:
»Da kannst du prosaischer Mensch sagen, was du willst: Es gibt eine seelische Übertragung der Gedanken.«
Ernst malte in seinen Skizzenblock ein großes Fragezeichen, in das er die Züge von Wüllner komponierte.
Hilde las einfach den Nachsatz des Briefes vor:
»Willst du meine Stimme hören, so schalte jeden Abend um neunzehn Uhr das Radio ein, ab und zu kommt ein Bericht von mir. Hier ist es still, darum spreche ich seltener …«
Ernst, der ewige Kritikaster, konnte es sich nicht verkneifen, zu fragen:
»Wer garantiert uns, daß heute ›ab und zu‹ ist?«
Zwar trat ihn Willi noch schnell auf den Fuß, aber der Satz war herausgerutscht. Dafür war Ernst auch das Enfant terrible des Clubs. Aber Hilde sagte ganz schlicht, so, wie es ihre Art war:
»Ich fühle es … er ist mir heute so nah. Bitte, bitte … hofft mit mir …«
Marschmusik ertönte. Es ging auf 19 Uhr. Oma Bunitz putzte noch schnell ihre Brille, weil sie behauptete, daß sie mit Brille
Weitere Kostenlose Bücher