Heimaturlaub
lehnte ich jedesmal höflich, doch entschieden ab. Eine Partei nämlich, in der ein Ley einmal einen führenden Posten erhalten würde, war für mich von vornherein ein Kasperlespiel, ein Puppentheater der Weltgeschichte. Dann kam 1933. Und siehe da, auf einmal war Ley Reichsleiter, Reichsorganisationsleiter, er stieg und stieg – und als der kleine Chemiker zurückblickte, sah er auf seinem Weg eine schmale Gestalt stehen … seine Frau. Sie war einfach und schlicht geblieben und konnte nicht dem Wahnsinnsflug ihres Mannes folgen. Da ließ sich der Reichsorganisationsleiter Dr. Robert Ley scheiden, weil ihm die Frau nicht mehr standesgemäß erschien. Da alle unsere Minister, einschließlich des Oberhauptes, eine Vorliebe für das Theater haben, heiratete er die Soubrette eines Berliner Tingeltangels und führte die wasserstoffblonde Dame als Gattin seinem geliebten Führer und dem deutschen Volk vor.«
Hilde schüttelte den Kopf; sie war sprachlos. Von solchen Dingen hatte sie noch nie etwas gehört und sich deshalb auch nie Gedanken darüber gemacht.
»Doch nicht genug damit«, erzählte Borgas weiter. »Er hatte Geschmack am Theaternachwuchs gefunden und verfolgte den Werdegang junger Schauspielerinnen, bis er eine besonders knackige Siebzehnjährige fand, die er zu seiner Lieblingsmätresse machte. Seine Ehefrau zog die Konsequenz: Sie verließ das Gut ihres Mannes am Rhein und trat in Berlin wieder auf der Bühne auf. Robert ertränkte seinen Kummer in einigen Flaschen, holte dann seine Frau eigenhändig von der Bühne herunter und sperrte sie wieder ins Rheingut ein. Dort starb Frau Ley nach wenigen Wochen. Der Arzt, der den Totenschein ausschrieb, verschwand kurz darauf in einem fernen Konzentrationslager. So blieb es für immer ungeklärt, ob es Selbstmord war aus Gram über einen Mann, der höher gestiegen war als es seine Nerven ertragen konnten!«
Hilde war blaß geworden.
»Woher wissen Sie das alles?« fragte sie zitternd und zerbröckelte vor Nervosität den Kuchen auf ihrem Teller.
»Ich war mit vielen, inzwischen bekannt gewordenen Leuten vertraut, die sich heute nicht mehr an mich erinnern wollen – ob sie nun Göring, Goebbels, Rosenberg, Himmler, Grohe oder Bormann heißen –, ich kannte sie, als sie froh waren, eine Scheibe trockenes Brot von mir zu bekommen. Wenn ich heute den dicken Reichsmarschall sehe mit der Brust voller Orden, so denke ich mir hinter ihm den ehemals schlanken Mann, der in Dachkammern hauste … wie jetzt ich! Aber sie wollen es alle nicht mehr wissen, sie wollen nur noch groß sein, waren nie klein gewesen, waren immer Helden und Kämpfer, immer Idealisten. Und als Idealisten haben sie die Gotteshäuser der Juden geschändet und ihre Villen, Wohnungen, Möbel und Kleider zerfetzt und zerschlagen. In Köln sah ich einen Tempel, in den hatte man ein Aborthäuschen gezerrt und es direkt vor das Allerheiligste geschoben. O mein Gott, man darf nicht daran denken, ohne dem Schicksal zu fluchen, in dieser Zeit als Deutscher geboren zu sein!«
Hilde Brandes spürte einen schwefligen Geschmack auf der Zunge, sie konnte sich noch an diese Stunden erinnern, wo die Synagogen in ganz Deutschland in Flammen aufgingen, wo Konzertflügel aus den Fenstern geschleudert, Gardinen zerrissen, Möbel zertrümmert und die Bewohner auf Wagen der städtischen Müllabfuhr verschleppt wurden. Aus den Gerichtssälen holte man die jüdischen Richter und Anwälte während der Verhandlung heraus und fuhr sie im Talar neben den Mülltonnen durch die Straßen. Ärzte wurden aus den Kliniken von den Patienten weggerissen, Schauspieler im Kostüm über die Straßen gerollt … dies alles zuckte Hilde in Sekundenschnelle durch den Kopf. Auf einmal verstand sie ihren geliebten Heinz Wüllner; sie verstand, daß er immer wieder von Gedanken an das schreckliche Geschehen dieser Zeit gequält wurde. Und sie ahnte, daß nun auch sie selbst nicht wieder aus diesem Irrgarten der Ideen und Gedanken herausfinden konnte ohne die Erkenntnis, in einer Epoche zu leben, die für ewig zur Schande des deutschen Volkes gehören mußte.
Borgas beugte sich zu ihr:
»Sind Sie mir böse, daß ich Ihnen solch schlimme Sachen erzähle?«
»Nein, im Gegenteil! Endlich ist mir der Blick geöffnet auf eine Welt, in der ich bisher nur das Äußerliche sah. Die Fassade, die glänzend und schön wirkte. Die Reden klangen so frei und sicher, man versprach uns goldene Berge …«
»… die uns im Sturz erschlagen hätten!
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