Heimaturlaub
besser hören könne, was Rolf ihr lebhaft mit allen medizinisch verfügbaren Gründen auszureden versuchte. Aber Oma Bunitz meinte, ihre Mutter konnte besser schlafen mit ihrem Ehering am Finger, und sie könne mit Brille eben besser hören.
Dann war es wieder still, nur der Marsch hallte durch das weite, dunkle Zimmer mit den schweren Möbeln und den blitzenden Bücherrücken philosophischer Luxusausgaben.
Hilde saß, auf den Sessel gekauert, dem Apparat am nächsten, und hatte die Augen geschlossen.
Da meldete sich eine kräftige, volle Männerstimme:
»Hier ist der großdeutsche Rundfunk. Wir bringen Frontberichte aus Rußland, Norwegen, der Kanalküste und dem Balkan.«
Hilde richtete sich interessiert auf. Aber zunächst kamen Informationen über Panzerschlachten in den Weiten des Ostens, ein Vorpostenbootscharmützel an der Küste Norwegens und ein Artillerieduell bei Calais. Das Krachen und Bersten der Granaten, das Tuckern der Maschinengewehre klang durch den Raum, doch die Stimmen der Berichter überschrien den tosenden Lärm. Wer konnte ermessen, was diese Kriegsberichterstatter durchmachten, wenn sie scheinbar gelassen und ruhig die schrecklichsten Szenen des Krieges schilderten und mit Worten, mit Mikrofonen und Kameras einen Eindruck vom Geschehen an der Front zu vermitteln versuchten. Endlich war es so weit; ein Kommentator kündigte an:
»Vom Balkan berichtet Kriegsberichter Heinz Wüllner über ein Stoßtruppunternehmen gegen einen Felsenpaß.«
Atemlose Stille war im Raum. Rolf, Ernst und Willi saßen wie Puppen in ihren Sesseln. Ellen hatte sich an Hilde geschmiegt. Oma Bunitz rückte ihre Brille immer näher zu den Augen. Frau Lancke fingerte vorsichtig nach einem Taschentüchlein.
Dann war sie auf einmal da, die Stimme des Kriegsberichters Heinz Wüllner. Voll, geschmeidig, für Hilde so vertraut und in diesem Augenblick doch so unendlich fremd. War das wirklich Heinz? Diese tiefe, ruhige Stimme, dieser ergreifende Ernst, diese Besinnung auf das Wesentliche! Nichts erinnerte hier mehr an das Schnöselchen, an den Lümmel, der in Bars Reden gegen die Regierung hielt. Hier sprach ein reifer, ernster, vom Schicksal getroffener Mann. Ein Mensch, der im Fegefeuer des Krieges gelernt hatte, Schein und Sein zu unterscheiden.
Hilde hörte gar nicht, was Heinz sagte; sie erfaßte den Sinn seines Berichts überhaupt nicht. Sie hörte nur den Ton, die Melodie und hin und wieder mal ein Wort: »… Glauben … Vertrauen … Hoffnung … Sehnsucht …« Erst am Schluß paßte sie genauer auf, als Heinz sagte:
»Während hier in einem Felsloch um mich her das Feuer der feindlichen Maschinengewehre prasselt, denke ich an meine Heimat und an ein kleines Mädchen, das zu Hause auf mich wartet, obwohl ich sie so plötzlich verlassen mußte und vielleicht enttäuscht habe. Bestimmt sitzt sie jetzt am Radio, um mich zu hören. Ich grüße sie, und sie wird stark sein, weil sie weiß, daß es für unsere Liebe keine Grenzen gibt. So grüße ich heute die Heimat und die Liebe und sende allen die unsichtbaren, unhörbaren Wünsche und Grüße von Millionen deutscher Soldaten aus weiter Ferne der Heimat entgegen in der Gewißheit, daß wir nach den Schrecken dieses Krieges endlich wieder heimkehren!«
Damit endete Heinz Wüllner, und das Lied von den Glocken der Heimat beschloß die Radioberichte von der Front.
Da saß Hilde neben dem Radio und streichelte den Apparat, liebkoste ihn geradezu, während der Geliebte sprach, und es war ihr, als bebe das Radio unter ihren Fingern, als wollte es sagen: Ja, ich bin es, der dich mit ihm verbindet, ich allein … über Berge und Flüsse, über Täler und Seen – durch mich ist er bei dir im Zimmer, durch mich hörst du seine Stimme, seinen Atem, seine Worte …
Später, als die Freunde gegangen waren und Hilde nur noch mit Oma Bunitz und Frau Lancke zusammen war, räumte sie die Spuren der kleinen Gesellschaft fort, küßte Oma Bunitz und Frau Lancke auf die Stirn und bat mit viel Entschuldigung, ins Bett gehen zu dürfen.
Dann war sie allein, lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, an der sich der Kreis der Nachtlampe spiegelte. Sie konnte nicht denken, ja, sie wollte auch nicht denken – sie wollte nur glücklich sein, ganz einfach glücklich. Sie spürte, daß Heinz in Gedanken bei ihr war und leise sagte: ›Mein Frauchen … mein liebes, kleines Frauchen …‹
Und leise flüsterte sie zurück:
»Ich danke dir, daß du zu mir gesprochen hast … ich
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