Heimaturlaub
»Kennen Sie unsere Regierung so wenig? Ob Sie flüchten oder bleiben – schuldig sind Sie in jedem Fall. Man wird Sie auf der Folter strecken, bis Sie alles zugeben, auch wenn es eine Lüge sein sollte. Dabei sind Sie nach dem Gesetz unseres Staates wirklich schuldig. Ein Verkehr mit Freunden, die nicht oder nicht mehr die Freunde des Staatsoberhauptes sind, ist eben in Deutschland heutzutage ein Todesurteil. Wenn Sie flüchten, dürfen Sie natürlich nicht als Dr. Elbers, Ministerialrat im Propagandaministerium auftreten – sondern als Albert Meyer, Beruf Kuhhirt oder Bankangestellter. Falsche Pässe gibt es in Berlin genug – man darf sich nur nicht scheuen, in den dunklen Vierteln der Stadt unterzutauchen. Und dann ab in die Schweiz.«
»Um nie wieder zurück zu können!«
»Liegt Ihnen soviel an Deutschland?«
»Es ist meine Heimat!«
»Meine auch! Aber glauben Sie mir – diese Regierung hält sich nicht mehr lange! Mit ihrem Sturz beginnt unser neues Leben!«
»Wer garantiert mir dafür?«
»Keiner! Aber wir können den Verfall doch sehen!«
»Und wenn sich alles wieder klärt? Dann sitze ich auf ewig in der Verbannung und kann meine Heimat nicht mehr sehen.«
Wüllner wurde ungeduldig und hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Mein Gott, werden Sie nicht sentimental, Dr. Elbers. Was ist Ihnen denn lieber: daß Sie in Ihrer Heimat noch einmal den Frühling blühen sehen und danach in einer netten Chlorkalkgrube liegen – oder daß Sie heute abbrausen und noch ein Leben vor sich haben, das sich zum Besten wenden kann … wenn das Schicksal gnädig ist.«
»Ich habe einen Eid geleistet!«
»Heute wird jeder Straßenkehrer vereidigt!«
»Ich trage eine Verantwortung.«
»Verantwortungslosen gegenüber!«
»Auch Sie stehen unter Überwachung, weil Sie mein Freund sind. Das darf ich doch sagen?«
Für Wüllner kam diese Mitteilung, daß er überwacht werde, nicht überraschend; er hatte so etwas bereits vermutet. Er sagte: »Wenn meine Überwacher mit mir an der Front im Dreck liegen, so sind es Kameraden, denn sie bluten mit. Was hier in Berlin geschieht … lieber Dr. Elbers, das ist mir so gleichgültig wie die Liebschaften unserer Chefs.«
»Und wenn man Sie verhaftet?«
»Man wird mich auch wieder freilassen. Ich stehe weder zu Röhm noch zu Strasser.«
»Aber zu mir!«
»Sie sind mein nächster Chef.«
Dr. Elbers wiegte seinen Kopf besorgt hin und her.
»Wüllner, Wüllner, Ihre Unbekümmertheit, Ihre Frechheit und Ihre Offenheit werden Ihnen noch einmal den Hals brechen. Ich warne Sie. Ich kenne unsere nationalsozialistische Musterorganisation zu genau. Darum möchte ich auch nicht in die Schweiz, weil sie zuviel Agenten dort haben, die mich eines Tages doch vergiften oder erschießen werden. Himmler hat einen langen Arm. Auch Sie wird er einst überraschen.«
Wüllner lächelte nur, aber dieses Lächeln war wie gefroren. Es konnte heißen: Armer Tor! Oder auch: Ich bin bereit! Laut sagte er:
»Bis dahin ist der Krieg verloren, oder ich bin gefallen. Und sollte tatsächlich vorher etwas passieren, dann werden das einige Herren bitter bereuen – dann reiße ich möglichst viele dieser Bonzen mit … Auf jeden Fall danke ich Ihnen für Ihre Warnung.«
Dr. Elbers sah sein Gegenüber ernst an:
»Darum ließ ich Sie nach Berlin rufen, nicht der Tonaufnahmen wegen. Schreiben konnte ich Ihnen nicht – auch die Post wird überwacht.«
Wüllner drückte ihm die Hand. »Ich glaube nicht, daß man mir gegenüber Gewalt anwendet, ohne wenigstens eine Handvoll Beweise zu haben … und diese wird man nie erhalten.«
»Was soll ich tun?« fragte Dr. Elbers unsicher.
»Da Sie nicht in das Ausland wollen … warten Sie ab, bis man Sie holt!«
»Dann jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.«
Ganz langsam sagte es der Ministerialrat, als habe er schon die Pistole in der Hand. Mutlos klang es, weit ab von jeglicher Hoffnung. Stumpf und erschreckend mutlos kam Wüllner in diesem Augenblick dieser sonst so rege Mann vor. Wieder ein Opfer des Nationalsozialismus, dachte er. So gehen alle klugen Köpfe dahin, werden liquidiert ihrer anständigen Gesinnung wegen. Was übrigbleibt, sind die Bonzen, die aus nichts etwas wurden, die im Straßengraben schliefen und jetzt in Palästen regieren. Das nennt man anmaßend national und sozial und eine revolutionäre Idee, die die ganze Welt reformieren soll!
Dann jage ich mir eine Kugel durch den Kopf – das war die Parole dieses Staates.
Wüllner
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