Heimkehr am Morgen (German Edition)
Höhepunkt bereits erreicht hatte.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie den Vermerk
verstorben
auf Helen Cooksons Krankenblatt notierte. Würde sie den Tag noch erleben, an dem sie einfach nur ein Neugeborenes in die Arme einer glücklichen Mutter legte oder gar ein Mittel gegen solch eine Epidemie fand? In ihre Albträume von den New Yorker Elendsquartieren mischten sich nun Gesichter, die aufgrund von Sauerstoffmangel und Husten fast schwarz waren.
Immer dieser Husten.
Sie hatte wieder fünf Stunden Schlaf ergattert, indem sie sich kurzerhand in das leere Feldbett neben Amy gelegt hatte. Sogar im Dämmerzustand hatte Jess auf das Geräusch ihres Hustens gehorcht. Während der Federhalter über das Papier kratzte, fragte sie sich zum wiederholten Mal, ob Frederick Pearson jemals hier auftauchen würde.
Anfang der Woche war ein Telegramm von ihm eingetroffen, gefolgt von einem Brief, in dem er erklärte, dass er in Omaha aufgehalten worden sei. Man hatte ihn buchstäblich aus dem Zug abkommandiert,um beim Kampf gegen die Epidemie dort zu helfen. Ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde war während eines Halts eingestiegen und hatte gefragt, ob sich unter den Passagieren Ärzte befänden. Der Mann, neben dem Pearson seit Chicago gesessen hatte, hatte ihn verraten. Er wusste nicht, wann er in Powell Springs eintreffen würde. Damit war er in einer ähnlichen Lage wie Jessica. Mindestens einmal wöchentlich erhielt sie ein Telegramm aus Seattle mit der Frage nach ihrem Ankunftsdatum. Aber sie konnte ihnen keinen festen Termin nennen.
Doch selbst wenn Pearson in diesem Augenblick zur Tür hereinspaziert wäre, hätte sie nicht gehen können. Ein Arzt allein war mit der angemessenen Versorgung dieser vielen Patienten überfordert. Im Augenblick begnügte sie sich mit einem Minimum an Schlaf und verließ sich ansonsten auf ihre Helfer. Die Patienten mussten gefüttert, gewaschen, umgezogen und medizinisch versorgt werden, und allein die viele Wäsche stellte ein gewaltiges Problem dar.
Dazu kam noch die ständige Angst, selbst krank zu werden, was sie jedoch weitgehend verdrängte. Wenn das passierte – nun, es durfte einfach nicht sein.
Gerade als sie die Temperatur eines Patienten in seine Krankenakte eintrug, fiel ein Schatten auf den Schreibtisch. Sie erwartete, Nettie Stark, Granny Mae, Iris Delaney oder eine ihrer anderen freiwilligen Krankenschwestern vor sich zu sehen, musste aber zu ihrer Bestürzung feststellen, dass es Adam Jacobsen war. Seit dem vorigen Abend, als Cole sie nach Hause begleitet hatte, war sie ihm nicht mehr über den Weg gelaufen.
Und über Nacht hatte sich alles verändert.
Er trug einen dunklen, frisch gebügelten Anzug. Jedes Haar lag akkurat an seinem Platz, als wagte keines, sich seinem Kamm zu widersetzen, und er sah ernster aus als sonst. »Adam – hattest du heute wieder eine Beerdigung?«
»Nein, erst am späten Nachmittag.« Über den Rand des Mundschutzes hinweg warf er ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wie geht es Amy?« Er hob den Kopf und sah zu Amys Abteil hinüber, das überquoll vor Blumen und Genesungskarten von besorgten Freundenund Bekannten, die sie noch selbst abgeben konnten. Kein anderer Patient hatte so viele Aufmerksamkeiten bekommen wie sie.
»Nicht wirklich besser, aber auch nicht schlechter.« Jess legte den Federhalter beiseite und verknotete die Hände ineinander. »Ich habe die Hoffnung, dass sie sich wieder erholt. Es geht ihr besser, als ich befürchtet hatte.«
»Das ist eine gute Nachricht. Und was ist mit dir?«
»Ich denke, mir geht es so gut wie es unter diesen Umständen möglich ist.«
»Tja, also, genau darüber würde ich gern mit dir sprechen. Hast du einen Augenblick Zeit?«
Bei diesen Worten wurde Jess unbehaglich zumute. »Natürlich, Adam. Setz dich doch.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Stuhl neben ihrem Pult.
Er sah sich in der großen Halle um, wo hektische Betriebsamkeit herrschte. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich lieber rausgehen.«
»Hm, das ist keine gute … wie du siehst, ertrinke ich in Arbeit und …« Sie machte eine weit ausladende Geste zu den Betten ringsum.
»Bitte. Ich werde nicht viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen, und ich denke, es ist wichtig.« Sein Ton war ernst und gleichzeitig flehend.
Jess wollte eigentlich nicht nachgeben, aber ihr fiel keine weitere vernünftige und höfliche Entschuldigung ein. Die, die sie bereits vorgeschoben hatte, hatten nicht funktioniert.
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