Heimkehr am Morgen (German Edition)
Arm und klopfte sich auf die Brust. »Ich habe das Gefühl, ich kann nicht richtig durchatmen.«
»Nein, das dauert vermutlich noch.« Jessica erlaubte sich vorsichtigen Optimismus. Das waren die ersten klaren, bewussten Worte, die Amy geäußert hatte, seit Cole sie hergebracht hatte. »Aber es geht dir schon viel besser.«
Mit einer kaum merklichen Kopfbewegung sah Amy sich in ihrem kleinen Kabuff um. »Wirklich? Wie lang bin ich schon hier?«
Jessica war so dankbar für die deutlichen Genesungsfortschritte ihrer Schwester, dass die harschen Worte bei ihrer letzten Begegnung bloß noch eine ferne und unwichtige Erinnerung waren. »Acht Tage. Du warst sehr krank.«
»Und Cole?«
Etwas unbehaglich setzte sich Jess auf den Hocker neben dem Bett. Sie hatte nicht vergessen, wie sich seine Lippen auf ihren Lippen und seine Bartstoppeln auf ihrer Wange angefühlt hatten. Ebenso wenig wie seine erstaunliche Mitteilung, dass er mit dem Telegramm nichts zu tun hatte. Gezwungen lächelnd meinte sie: »Er war fast jeden Tag hier.«
»Tatsächlich?« Ratlose Verwirrung überzog Amys Gesicht. »Er … ich kann mich nicht erinnern.«
In Wahrheit hatte sich Jessicas Aussage nur auf die ersten drei Krankentage bezogen. Jessica hatte ihn seit der bewussten Nacht nicht mehr gesehen. Er habe Amy noch ein paarmal besucht, hatte man ihr erzählt, aber nur wenn sie, Jessica, nicht da war, und nur ganz kurz. Zwar hörte sie ihn hin und wieder, wenn er in der Schmiede arbeitete, bekam ihn jedoch nicht mehr zu Gesicht.
»Jetzt geht es dir ja besser und du wirst dich an seinen nächsten Besuch erinnern.«
»Wann … wann kommt er denn wieder?«
»Bestimmt bald.« Sie wollte das Thema wechseln und tätschelte Amys Hand.
In diesem Augenblick kam Granny Mae mit ihrem Teewagen vorbei, auf dem ein Suppenkessel und Schalen standen. »Na schau mal einer an, wer aufgewacht ist!«, sagte sie lächelnd und entblößte dabei ihre gelben Pferdezähne. »Hast du Appetit auf ein bisschen Brühe, Amy?«
»Brühe«, echote Amy.
Auf Jess’ Nicken hin gab Mae eine Kelle davon in eine schwere weiße Keramikschale aus ihrem Café und reichte sie Jessica zusammen mit einem Löffel. Jess flößte ihrer Schwester die Suppe ein und tupfte ihr mit einem Tuch Mund und Kinn ab. Es kam ihr vor, als würde sie ein Vögelchen füttern.
Nach einigen Löffeln setzte sie die Schale auf der hochkant gestellten Obstkiste ab, die als Nachtkästchen neben dem Feldbett stand. »Ich denke, das reicht vorerst. Du musst dich noch schonen. Reden kann für einen Rekonvaleszenten ziemlich ermüdend sein.«
»Müde. Ja, das bin ich.« Amy sprach langsam und schläfrig, und die Augenlider fielen ihr wieder zu.
Nachdem Jessica noch einige weitere Patienten besucht hatte, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Es begann zu dämmern, und hier schien alles unter Kontrolle zu sein. Sie konnte sich ein paar Stunden davonstehlen, ein Bad nehmen und ein bisschen schlafen.
Als sie ihre Papierstapel ordnete, war sie froh, dass Adam heute Abend nicht hier war, um sie nach Hause zu bringen. Seit seiner unbeholfenen Liebeserklärung hatte er das keinen Abend versäumt. Er wusste, dass er sie verärgert hatte, und sein Liebesgeständnis hatte die Sache nicht besser gemacht. In ihren Ohren klang es nicht aufrichtig, obwohl sie sich auch nicht vorstellen konnte, weshalb er bei diesem Thema lügen sollte. Manche Männer taten es, um eine Frau auszunutzen und sie ins Bett zu locken. Das schien bei Adam nicht der Fall zu sein. Tagsüber, wenn er Krankenbesuche machte,gab er sich ganz als Pfarrer und Seelsorger, auch ihr gegenüber. Er hatte seinen Antrag mit keiner Silbe mehr erwähnt, versuchte aber offensichtlich, sie mit Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit für sich zu gewinnen.
Nur dass ihr seine Beharrlichkeit auf die Nerven ging.
Doch ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wie sie ihn loswerden konnte, ohne ausfallend zu werden. Sie war inzwischen so weit, dass sie ihm am liebsten ganz offen eine Abfuhr erteilt hätte. Es wäre ihr sogar ein Vergnügen gewesen; sie war müde, überarbeitet und von Sorgen zermartert. Aber diesem Drang wurde stets durch seine Drohung, Cole bei der American Protective League anzuschwärzen, ein Riegel vorgeschoben. So hatte sie ihm also erklärt, seine Begleitung sei unnötig. Aber er hatte darauf beharrt, in diesen unsicheren Zeiten solle eine Frau nachts nicht allein unterwegs sein.
Im Flur nahm sie ihren grauen Wollmantel vom
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