Heimkehr in Die Rothschildallee
Wehmutslied »Ol’ Man River«. Betsy erinnerte sich spontan, dass das Lied aus dem Musical »Show Boat« stammte. Clara hatte die Platte für Anna zum Geburtstag besorgt. Die Idee war ein durchschlagender Erfolg gewesen. Die ganze Familie hatte um das Grammofon gesessen, auf der Erde Enkelin Claudette und der Nachkömmling Alice, zwischen ihnen die daumenlutschende Fanny mit ihren verzaubernden grünen Augen. Auf dem kleinen Afghanenteppich mit einem Flecken von Karottenbrei, der eine uralte, nur von der Hausfrau noch erinnerte Geschichte erzählte, hockte der schwanzwedelnde Snipper. Der muntere Foxterrier glich aufs Haar dem Reklamehund der Plattenfirma »His Master’s Voice«, selbst Johann Isidor, der Hunde ja nicht mochte, hatte über Snipper lachen können.
»Richtig gelacht hat er«, sagte Betsy. »Mein Gott, dass ein Mensch sich so deutlich erinnern muss! Das ist nicht gerecht.«
Ihr schien es, als würden die Bäume, die die Straße säumten, ständig wachsen. In die Länge und in die Breite. Es war eine unüberwindliche Mauer aus teerschwarzen Bäumen. Aus Betsys Augen tropfte brennender Schweiß. Rauschen, dem kein Entkommen war, drang aus einer Welt ohne Licht und Luft. Schwarze Wolken stürzten vom Himmel. Betsy hielt die Arme vor den Körper, doch es war zu spät. Sie lief gegen die Baumwand und wurde blind. Victoria und den kleinen Salo sah sie aber doch. Ein Mann stieß sie in den Zug. Er schlug nach Betsy. Sie wollte schreien, doch genau wie damals konnte sie ihren Mund nicht aufbekommen.
»Setzen Sie sich doch richtig hin. Sie fallen ja gleich auf mich«, protestierte die Frau im Bus.
»Im Sitzen fällt man nicht«, wehrte sich Betsy.
Sie wusste nicht, ob sie noch lebte oder ob es ihr gelungen war, zu Victoria in den Zug zu springen. Dann merkte sie, dass das Radio immer noch »Ol’ Man River« spielte. Das herzzerreißende Lied rief sie zurück, war der Erlösungstraum, an den sie sich in den Jahren der Todesnot geklammert hatte. »Die haben das Licht wieder angemacht«, sagte Betsy.
»Sie haben geschlafen. Ich beneide die Leute, die überall schlafen können, zu jeder Zeit.«
Die Helligkeit war ein gnadenloser Blitz. Betsy sah vergiftete Sonnenstrahlen auf sich zurasen und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie schrie mit aller Kraft, denn ihr war bewusst geworden, dass sie die Bewegung des Flehens, die ihr so lange selbstverständlich und einmal sogar Schutz gewesen war, nicht mehr beherrschte. Sie bewegte sich nicht, flüsterte ihrem Körper Beruhigung zu, spürte, wie die Angst und die Ohnmacht von ihr abfielen. Nur noch der beißende Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem der Fahrer seit der Abfahrt aus Regensburg immer wieder das Lenkrad und das Armaturenbrett und gelegentlich auch seine Stirn abgerieben hatte, irritierte ihre Nase.
Pat der Reinliche sang, obgleich das Radio nicht mehr spielte, immer noch »Ol’ Man River«. Bei ihm klang das schmerzvolle Lied kämpferisch, einmal sogar fröhlich. Pat war höchstens dreiundzwanzig Jahre alt; er hatte fleischige Hände und auffallend lange Arme, Sommersprossen und augenscheinlich Schwierigkeiten mit der Geografie Europas, denn er hatte einige Male angehalten, um Karten und handgeschriebene Aufzeichnungen zu studieren. Einmal fragte er den Mann, der hinter ihm saß: »Is this Germany or Australia?« Zweifellos meinte er Österreich, denn er erwähnte Lofer an der Grenze und zeichnete einen Berg, der wie das Matterhorn aussah, in die Karte.
Pats Stimme war nicht die eines Befehlenden, sie war die Stimme eines Mannes, der die Geschlagenen trösten und sie aus der Dunkelheit zur Sonne führen will. Nun pfiff der Fidele »Whistle while you work« aus dem »Schneewittchen«-Film. Nach dem letzten Wort rief er abermals »Frankfurt am Main« und drückte mit aller Kraft auf die Hupe. Er nahm die Hände vom Steuer, winkte mit der Rechten zum Fenster heraus und lachte wie ein Schuljunge am ersten Ferientag. »Good old Ike«, brüllte er, legte seine Linke aufs Herz und sagte dann in andächtigem Ton: »God bless America.«
Diesmal begriff Betsy sofort, dass der ausgelassene Bub am Steuer von der Stadt sprach, die einst die ihre gewesen war. Ihr Herz raste, ihr Körper erstarrte, jeder Atemzug war Schmerz. Trotzdem gelang es ihr, sich gegen die Erinnerungen vom letzten Tag in Frankfurt zu wehren. Die Bilder waren gnädig undeutlich. Betsy sah lediglich den Nebel am Morgen des Geschehens, die Todgeweihten hatten kein Gesicht. Der
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