Heimkehr in Die Rothschildallee
ersten Leben gekannt hatte – in einem Leben, in dem es absolut selbstverständlich gewesen war, Kaffee aus Mokkatassen zu trinken und Musik zu hören. Der amerikanische Komponist Cole Porter hatte »Don’t fence me in« im Jahr 1934 geschrieben. Erwin hatte das Lied geliebt.
»Das braucht keiner zu wissen, Vicky«, hörte sich Betsy sagen, »das ist gefährlich.«
Erschrocken drückte sie ihre Hand auf den Mund; Übelkeit und Atemnot würgten sie. »Es ist vorbei«, flüsterte Betsy. Sie versuchte, sich klarzumachen, dass sie keine tausend Tode mehr zu sterben brauchte, ehe der eine wahr wurde, doch die Angst beutelte ihren Körper mit Knüppeln. Betsy schloss die Augen; sie sagte sich immer wieder, es wäre entscheidend, so unauffällig zu atmen, dass man sie für tot halten würde, aber sie merkte sofort, dass ihre Mühe vergebens war.
Es war nicht das erste Mal auf der Fahrt in die Endlosigkeit, von der es hieß, sie führe zurück nach Frankfurt, dass Betsy in die Welt der Toten abtauchte. Trotzdem schwindelte es ihr, wann immer sie gewahr wurde, dass es so war. Jedes Mal sah und sprach sie mit Vicky. Sobald sie sich von der schönsten und schwierigsten ihrer Töchter verabschiedete, rätselte sie, ob dieses Abdriften in die Vergangenheit Vorbote einer geistigen Erkrankung sein könnte oder ob das Verwechseln von Zeit und Ort nur typisch für den körperlichen Zustand einer alten Frau war. Ihre Hinfälligkeit war ihr peinlich, eine geistige Erkrankung erschien ihr öfter sogar erstrebenswert. Wenn nämlich ihr Hirn nicht mehr funktionierte, würde sie nicht mehr wissen, dass sie ihren Mann, Vicky und den kleinen, verwirrten Salo nicht hatte schützen können. Betsy dachte an das Grammofon im Salon ihrer Wohnung, an die Toten ihrer Familie und einmal an die nie verzagende Frau Feuereisen, die Mutter ihres Schwiegersohns. Die hatte in Theresienstadt bis zuletzt an ein Wiedersehen mit ihrem Sohn geglaubt.
Betsy Sternberg, aus der Hölle zurückgekehrt, hatte der Gnadenlose zum Weiterleben verurteilt; am ersten Mittwoch im Juni 1945, um zwölf Uhr mittags, trennten noch zehn Kilometer sie und ihre Schicksalsgenossen von Frankfurt. Nach den Erlebnissen der letzten vier Jahre empfanden die Menschen im Armeebus, die das große Sterben erlebt hatten, die lange Fahrt noch nicht einmal als Strapaze, eher als unwirklich und abstrus und als einen weiteren Schritt in die ewige Verzweiflung. Es hatte unterwegs nur wenige Unterbrechungen gegeben, dazu eine Übernachtung in einem amerikanischen Armeecamp in Regensburg in Bayern und dort ein Abendessen – große weiße Bohnen mit dicker, süßer Tomatensoße und fetten Schokoladenkuchen mit Vanilleeis. Kaum einer hatte das Essen vertragen.
Die Kranken, Alten und Verwirrten, Männer, Frauen und ein totenbleiches Mädchen von ungefähr neun Jahren, das auf der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen und versucht hatte, das Eis unter ihre Bluse zu stopfen, hatten auf Feldbetten schlafen müssen und waren innerhalb einer Stunde zwei Mal entlaust worden. Ein Armeearzt mit dem Arm in der Schlinge hatte Tabletten gegen Durchfall verteilt, seine Assistentin mit feuerrot geschminkten Lippen hatte geraten, um den Block zu laufen und an »etwas Schönes zu denken«.
Nun rief Fahrer Pat so laut, dass er selbst zu erschrecken schien, denn er hielt kurz sein rechtes Ohr zu, »Frankfurt am Main«. Der Frohgestimmte aus Arkansas sprach die drei Wörter so aus, dass kaum einer im Bus auf die Idee kam, es sei von Frankfurt die Rede. »Yes«, brüllte Pat. Er drehte das Radio, das auf dem Beifahrersitz zwischen zwei Türmen von Konservendosen mit der Aufschrift »Only for army dogs« stand, auf volle Lautstärke. »Good old Ike«, jubelte Pat.
Ein Sprecher verlas die Mittagsnachrichten. Betsy, die in der Schule für höhere Töchter vier Jahre lang Englisch gelernt und sechs Kinder englische Vokabeln abgehört hatte, verstand noch nicht einmal den Wetterbericht. Sie malte sich abermals aus, welch verkappter Segen es sein würde, sich nicht mehr an die Vergangenheit zu erinnern, aber der Wunsch, kaum herbeigesehnt, beschämte sie so, dass er ihre Brust zerquetschte. »Ich hab noch viel zu tun«, murmelte sie in Richtung ihrer bewegungslos dahingestreckten Sitznachbarin, »so viel.«
Zu Betsys Erstaunen setzte sich die Frau auf und starrte sie an. »Da können Sie Gott danken. Ich steh nur rum und warte auf den Tod.« Ihre Stimme war deutlich, fast schrill.
Den Rundfunknachrichten folgte das
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