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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Stimme des Schreckens konnte sie jedoch nicht entrinnen. Noch im Bus der Befreier hörte Betsy den SA-Mann vor der Frankfurter Großmarkthalle grölen. Diesmal aber wurde ihr Gebet erhört. Ein Engel schlug Satan das Gewehr aus der Hand und sagte, Betsy brauche sich nie mehr zu ducken.
    »Es war nichts«, beschwichtigte sie ihr Herz, »gar nichts.« Dann beschwor sie Fanny, sich nicht umzudrehen.
    Die Frau neben ihr schrie auf. »Lassen Sie das Kind doch leben«, flehte sie, »nur dieses Kind. Es ist ein so gutes Kind.« Aus der olivgrünen Decke mit dem Aufdruck »Property of the US Army« ragten nur ihre Arme heraus. Sie waren dürr wie abgestorbene Äste, auch ihre Augen waren tot.
    »Sie müssen keine Angst haben«, besänftigte Betsy die Schluchzende. »Wir brauchen alle keine Angst mehr zu haben. Es ist vorbei.«
    »Ein Mensch ohne Angst ist schon tot«, erklärte die Frau. Ihre Stimme war überraschend fest. »Das haben sie im Lager immer gesagt. Das müssen Sie doch auch gehört haben.«
    »Doch, doch«, erwiderte Betsy, »das hab ich, aber ich hab’s nie geglaubt. Wir haben doch früher auch ohne Angst gelebt.«
    Es war ein Junitag der Fülle. Betsy hatte selbst im Lager die Sommertage in der Rothschildallee nicht vergessen können. Die Rosen im Vorgarten hatten üppiger geblüht als anderswo. »Nein, Josepha, die pflücken wir nicht. Es soll doch jeder, der vorbeikommt, Freude an unseren Rosen haben.« Auf dem Bürgersteig vor dem Haus spielte Victoria mit Freundin Marie Hickelkreis; die Kreise und Quadrate, die für Himmel und Hölle standen, waren mit weißer Kreide aufs Straßenpflaster gemalt. »Ich bin im Himmel«, jubelte Victoria. Sie stand auf einem Bein, hatte ein gelbes Kleid an und um den Hals die kostbare Kette von Tante Jettchen, die sie nicht in die Schule mitnehmen durfte und es immer wieder tat.
    »Kannst du nicht ein einziges Mal gehorchen, Vicky? Warum lässt du Mariechen denn nie den Himmel malen?«
    »Mariechen hat gesagt, es gibt gar keinen Himmel. Was soll sie da malen?«
    »Ich sehe sie immer nur als Kind«, erzählte Betsy der Frau in der Decke. »Vicky war die hübscheste von meinen fünf Töchtern, aber eigensinnig wie ein Maulesel. So ist es ja passiert. Vielleicht hätte sie in Holland überlebt.« Einen Moment überlegte sie, ob sie Anna mitgerechnet hatte oder nicht. Sie zählte ihre Kinder an den Fingern ab. Auch Otto fehlte nicht. »Er ist 1915 gefallen«, sagte sie laut. »Nein, 1914«, verbesserte sie. Sie war konsterniert, dass sie Ottos Todesjahr verwechselt hatte.
    Der Bus fuhr über ein Schlagloch. Pat drehte sich um, fluchte und lachte gleichzeitig und brüllte so laut »Wow!«, dass die Schlafenden wach wurden und die Wachen sich klein machten. Betsy sah sich nach Johann Isidors Arm greifen. Unmittelbar danach kam Anna auf sie zu. Sie durfte nicht zu Anna sprechen, sonst war Fanny verloren. Verloren wie ihr Bruder. Lieber noch einmal die Rosen von der Rothschildallee riechen und Vicky hüpfen sehen. »In den Himmel, Vicky, nicht in die Hölle. Du musst doch wissen, wo der Himmel ist.«
    Betsys Arme waren nicht mehr Teil ihres Körpers. Auch die Beine trennten sich von ihr. In ihrer Kehle ließ sich das Feuer nicht löschen. War es das Todesfieber, von dem alle redeten, oder nur die Erschöpfung, weil man von ihr verlangte, dass sie weiterlebte? Ohne Johann Isidor, ohne Victoria und ohne Salo. Nur nicht fragen, wohin die gingen, die du geliebt hast, bloß nicht auffallen, nicht stolpern auf dem Weg in den Tod, sonst bringst du die Menschen in Gefahr, die noch das Leben vor sich haben. Anna. so komm doch endlich! Wenn du jetzt nicht kommst, ist es zu spät.
    »Anna war die Mutigste von uns allen«, sagte Betsy. Ihr wurde bewusst, dass sie zu laut sprach. Sie schüttelte den Kopf und bohrte die Nägel ihrer Rechten ins Fleisch der linken Hand – eine Angewohnheit aus der Kinderzeit, wenn ihr Unerwartetes widerfahren war. Es war die Probe, ob man überhaupt lebte. Oder alles nur geträumt hatte. »Unsere Anna hat nie viel geredet, doch sie hat getan, was getan werden musste. Ihr Versprechen hat sie gehalten, obgleich sie hochschwanger war. Wir haben noch am letzten Tag von ihr gesprochen.«
    »Bei mir sind es zwei Töchter und vier Enkel. Und mein Mann natürlich. Alle in den ersten zwei Wochen von Theresienstadt aus in den Osten verschickt. Nur mich hat man vergessen.«
    »Mich auch«, stimmte Betsy zu, »ich werde es nie fassen, dass ich auf keiner Liste stand.

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