Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
irgendwo einquartiert.«
    »Nur bei ehemaligen Parteimitgliedern, hab ich mir sagen lassen«, erwiderte die Schwägerin. Politisch war sie in einem Zustand, den die Umgangssprache als »fein raus« umschrieb. Ihr Mann hatte sich trotz ihres ständigen Drängens nicht dazu aufraffen können, Mitglied der NSDAP zu werden; nun galt er als »politisch nicht belastet«. Nirgends war vermerkt worden, dass der verbeamtete Hochbauingenieur zur Wiederverwendung 1938 in der Nacht der brennenden Synagogen als einer der ersten die Wohnung seines ehemaligen jüdischen Hausarztes geplündert hatte.
    Frau von Hochfeld stellte den schönen Empireschreibtisch von ihrem Schlafzimmer, wohin sie ihn vor den oberschlesischen Zwillingen gerettet hatte, in den »Salon vom Herrn Doktor«. Der saß am frühen Nachmittag des dritten Freitags im April an dem Prachtstück bayerischer Handwerkskunst und las zum wiederholten Mal den unfassbaren, sein Herz zersprengenden Brief aus seiner einstigen Heimatstadt.
    Es war Karfreitag. Einige der zerstörten Kirchen hatte man mit Notdächern versehen, vor vielen war gekehrt worden. Viele dunkel gekleidete Frauen waren unterwegs, klapperdürre Greise und junge Kriegsversehrte in umgefärbten Uniformmänteln und auf Krücken. Kinder mit sorgfältig gezogenem Scheitel liefen an der Hand der Mutter. Die Ermahnung »Heb deine Füße« hatte zwei Weltkriege, Inflation und Hungersnot überdauert. Kleine Mädchen hatten Puppen im Arm, die besser gekleidet waren als sie selbst, Buben schauten sehnsüchtig zu den Trümmergrundstücken, in denen sie sonst tobten. Wenn die Mutter es nicht sah, winkten sie einem vorbeifahrenden Jeep nach. In den Kirchen, in denen es hieß, Gott höre alles, beteten sie, er möge ihnen eine Schiffskarte nach Amerika unter das Kopfkissen legen. Zu Ostern hatte es in der amerikanischen Zone für Kinder über sechs Jahren eine Sonderzuteilung von einem Ei gegeben.
    Für das Militärgericht in Nürnberg war der Karfreitag ein gewöhnlicher Werktag. Morgens erklärte sich der ehemalige Generalgouverneur Polens, Hans Frank, vor dem internationalen Tribunal als erster der sechsundzwanzig Angeklagten für schuldig. In der Mittagspause wurde dem Dolmetscher zur speziellen Verwendung, Friedrich Feuereisen, der auf der Poststelle für Zivilbedienstete irrtümlich als »Fredric Fereisen« geführt wurde, trotz der falschen Eintragung ein Brief aus Frankfurt ausgehändigt.
    »Aus Polen«, wunderte sich der Postverteiler, schaute Fritz streng an und fasste sich an die Stirn. Der Mann stammte aus Minnesota und galt in den Augen der Armee als exzellenter Kenner Europas. In diesem Fall hatte Corporal Kingston allerdings übersehen, dass es nicht nur das nun zu Polen gehörende Frankfurt an der Oder gab. Fritzens Vaterstadt, in der das Hauptquartier der amerikanischen Zone untergebracht war, war keine zweihundert Kilometer entfernt.
    »Am Main«, murmelte Fritz in seiner Muttersprache. »Polen hat mir der liebe Gott erspart.« Seine Lippen brannten, als er das sagte. Auch sein Kopf fing Feuer.
    Er verzichtete auf das den Dolmetschern zustehende Mittagessen und sogar auf die beiden Tassen Kaffee, auf die er sich jeden Tag aufs Neue freute. Erleichtert stellte er fest, dass die Sitzung ausfiel, für die er am Nachmittag eingesetzt war. Wie ein Mann, der um sein Leben rennt, hetzte er zu Frau von Hochfelds Wohnung. Der Regulator in seinem Zimmer schlug drei, als er den Brief aus Frankfurt aufriss. Als die Sonne unterging, die den Tag zu einem besonderen gemacht hatte, saß er immer noch, tränenblind und betäubt, am Schreibtisch.
    Einmal meinte Frau von Hochfeld, sie hätte ihren Untermieter schluchzen gehört, jedoch hatte sie ihrer Lebtag nicht ohne Not zugegeben, dass sie die Angewohnheit hatte, an fremder Menschen Türen zu lauschen. So musste sie auf die Bekundung einer Teilnahme verzichten, die sie als ihre Pflicht empfand – in Anbetracht der Konfession ihres Mieters mochte Frau von Hochfeld weder in Gedanken noch in dem daraus resultierenden Selbstgespräch von »Christenpflicht« sprechen.
    »Komm uns so bald wie möglich besuchen«, hatte Betsy an ihren Schwiegersohn geschrieben. »Und wenn du nachts um drei vor der Tür stehst. Ehe wir Dich nicht sehen und anfassen können, werden wir nicht wirklich davon überzeugt sein, dass es Dich gibt. Dass Gott gleich drei Wunder in einer einzigen Familie getan hat und unsere Fanny, Dich und mich alte Frau hat überleben lassen, das werde ich bis zu

Weitere Kostenlose Bücher