Heimkehr in Die Rothschildallee
meiner letzten Stunde nicht begreifen. Er muss sich verzählt haben, unser unfehlbarer Allmächtiger. Wir aber werden den Rest unseres Lebens nötig haben, um einander zu erklären, warum es uns noch gibt. Wie hätte ich Deiner lieben Mutter gewünscht, dass sie das hätte erleben können. Sie hat bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgegeben, Dich wiederzusehen. Ich weiß gar nicht, ob ich Dir das schreiben darf. Auch das ist typisch für uns: Wir wissen nie, ob wir reden dürfen oder ob wir schweigen müssen. Ich zum Beispiel bringe es nicht fertig, mit Fanny über ihre Mutter und ihren Bruder zu reden und als sie es neulich doch tat, konnte ich nicht über Victoria und Salo sprechen. Und auch nicht über Johann Isidor, der lange bevor er in Theresienstadt an Hunger starb, gesagt hat: ›Ich hab mich selbst überlebt.‹
Erst nach langem Grübeln ist mir klar geworden, dass Du von der hiesigen Jüdischen Gemeinde meine Adresse erhalten haben musst, ehe ich im Baumweg war, um Fanny dort anzumelden. Anna und Hans sind gar nicht auf den Gedanken gekommen, das zu tun. Sie haben jahrelang gezittert, einer könnte dahinterkommen, dass Fanny jüdisch ist, und sie dann an die Gestapo verraten. Fanny wird heute noch blass, wenn sie im Hausflur der Hausmeisterin von damals begegnet, obgleich die inzwischen Angst vor uns hat. Hans und Anna wohnen seit Kriegsende in ihrer Wohnung und sie mit ihrem Gatten, dem gnadenlosen Herrn Blockwart, in der Mansarde. Falls Du Dich erinnerst: In Frankfurt hat Justitia am Gerechtigkeitsbrunnen vor dem Frankfurter Römer nie eine Augenbinde getragen! Erwin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ach Fritz, Erinnerungen, nichts als Erinnerungen, die einem das Herz brechen!
Du wirst über Fanny staunen. Nicht nur weil sie nach meinem Dafürhalten Dir so ähnlich sieht, wie nur eine Tochter ihrem Vater ähnlich sehen kann. Sie ist auch sonst von Deiner Art, zurückhaltend, bedächtig und auch klug. So nach und nach merke ich (wir beide kennen uns ja noch kein Vierteljahr), dass sie trotz allem, was sie erlebt hat, auf das Leben zugeht. Zwar lacht sie selten, doch hat sie Humor und zwar einen, der mich manchmal an den von Erwin erinnert. Ach, wie sich mein unerreichbarer Sohn freuen würde, Fritz, dass Du überlebt hast. Er hat seinen Schwager sehr geschätzt – solange wir miteinander in Verbindung stehen konnten, hat er Dich immer erwähnt. Bisher ist es mir noch nicht einmal gelungen herauszufinden, ob man nach Palästina schreiben kann oder ob von dort Briefe nach hier befördert werden. Hans geht jede Woche zur Post, um sich zu erkundigen.
Komm, lieber, lieber Fritz, komm. Komm, ehe es Mai wird und die Ungeduld uns alle umbringt. Die Ungeduld und die Freude! Mein Gott, dass Freude den Menschen so zu beuteln vermag wie Sorge und Angst. Fanny läuft jedes Mal aus dem Haus, wenn sie auf der Straße ein Auto sieht, und stundenlang sitzt sie am Fenster. Bisher wollte sie durchaus nicht zur Schule gehen, weil sie sich fürchtet, mit Menschen zusammenzukommen, die nichts von dem wissen, was ihr angetan wurde. Seit Deinem Brief ist sie jedoch fest entschlossen, sich für Dich zu überwinden. Sie betont das Wort Vater so, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, der einen Vater hat. Ich habe jedes Mal Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Stell Dich bloß darauf ein, Fritz, dass Deine Schwiegermutter nicht mehr die starke Betsy ist, die den Ton angibt, sondern eine alte Frau, die immer einen braucht, der ihr sagt, was sie zu tun hat.«
Fritz faltete den Brief zusammen. Immer wieder versuchte er, sich eine alte Frau vorzustellen, die Mann, Tochter und Enkelkind in den Tod hatte gehen sehen und die Gott zum Überleben verurteilt hatte. Aus den Mosaiksteinen seiner furchtbaren Fantasie wurde jedoch nie das Stück Wirklichkeit, das er brauchte, um zu verstehen. Er merkte nicht, dass er fröstelte, dass er sich klein machte wie ein Mensch, der die Häscher anrücken sieht, sich aber nicht mehr bewegen kann, weil er bereits im Vorfeld der Hölle erstarrt ist. Die Zimmerdecke mit der üppigen Stuckverzierung stürzte auf ihn zu, von Menzels Bild vom Flötenkonzert in Sanssouci kamen beruhigende, vertraute, geliebte Weisen.
Noch waren die Erinnerungen ohne Schmerz, noch schaute Fritz ohne Angst zurück. Es gelang ihm gar, als wäre dies nach acht Jahren in einem Leben ohne Wurzeln und ohne Licht selbstverständlich, sich an seine Tochter zu erinnern. Er sah Fannys rötlich schimmerndes Haar, ihre grünen
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