Heimkehr in Die Rothschildallee
Königin der Nacht, während das Orchester noch die Ouvertüre zur »Zauberflöte« spielte. Obwohl er sich sofort die Ohren zuhielt und seinem Herzen Kraft, Würde und Anstand befahl, spürte er den Schmerz und machte sich bereit zu fliehen. Der Ritter fand den Graben, über den er zu springen hatte, aber die Dämonen der Versuchung waren nicht aufzuhalten. Salo hörte nicht auf zu schreien, und doch gelang es dem Flüchtenden, seinem Sohn klarzumachen, dass Gott Kinder in Not nie im Stich ließ. Fritz versprach dem zitternden Jungen, sie würden spätestens mittags beide in Sicherheit sein. Gemeinsam sprachen sie das Gebet für Menschen auf der Reise. In dem Moment jedoch, da dieser starke, mutige, zu allem fähige und zu allem entschlossene Vater sich aufrichten wollte, stolperte er und stürzte in die Dunkelheit zurück. Für immer.
»Ich bin deutsche Federbetten nicht mehr gewohnt«, sagte Fritz. »Sie sind so schwer. Da muss man ja Albträume kriegen.«
»Es wird alles gut«, sagte die, die gelernt hatte, nur nach vorn zu schauen.
Ihre Stimme war tief und weich. Im Schein der Taschenlampe hatte ihr Haar die Farbe des Sommers; es lag wie ein fein gewebtes Tuch auf ihren Schultern. Ihre Haut duftete wie Rosen in der Mittagssonne. Die Rosenseife hatte Fritz am Tag zuvor aus dem PX mitgebracht. Frau von Hochfeld war wie ein junges Mädchen errötet. Gelächelt hatte sie und den Schenkenden, der das Lächeln einer dankbaren Frau nicht mehr gewohnt war, an Mona Lisa erinnert. Nun beruhigten die Hände der Gioconda seinen bebenden Körper. Rosenhände rieben ihm die Verzweiflung und die Angst des Versagers von der Stirn.
»Was hast du?«, fragte sie. »Du musst geträumt haben. Du hast im Schlaf geschrien, als wären alle Furien der Welt hinter dir her. Ich hab dich gehört, obwohl die Zwillinge wie die Wilden getobt haben.«
Dem Mann, der erst ein paar Stunden zuvor erfahren hatte, dass seine Frau und sein Sohn umgekommen waren, fiel nicht auf, dass sie ihn geduzt hatte. Dass ihn Fremde duzten, war Fritz aus Holland gewohnt. Am Anfang seiner Emigration hatte ihm das holländische Du Hoffnungen gemacht, er würde sein Heimweh überwinden lernen und vergessen, dass ihm seine Heimat die Lebenswurzel abgeschlagen hatte, doch er hatte sehr schnell gemerkt, dass Vergessen nur ein Wort wie andere ist und dass sich der Mensch nie von seinen Erinnerungen befreit.
Im Moment des Geschehens ließ die Frau mit dem Lächeln der Mona Lisa den charakterfesten Mann mit Grundsätzen vergessen, was er nie hätte vergessen dürfen. Er schloss die Augen und lief in das Land der Täter. Als wäre er ein Mann, von dem keiner Rechenschaft forderte, gab er seinem Körper nach, doch es gelang ihm keinen Herzschlag lang zu verdrängen, was er mit seiner Schwäche den Toten antat – seiner Frau, seinem Sohn, seiner Mutter, dem Schwiegervater und den Millionen Juden, die in Deutschland ermordet worden waren.
»Ich hab gedacht, das kann mir nicht passieren«, flüsterte Adelheid.
»Das denke ich immer noch«, sagte er.
Als sich das Licht der Nacht taggrau färbte und eine Amsel in einer frühlingsgrünen Linde jubilierte, stieg die Königin der Nacht von ihrem Thron. Sie wickelte sich in ihren Morgenmantel und zog behutsam die Tür vom Zimmer ihres Untermieters von außen zu. Ihr Schritt war leicht, aber der Besiegte hörte sie im Flur gegen eine Holzkiste stoßen. Er meinte, er würde auch sein Herz schlagen und in seinen Schläfen die Trommeln des Zorns hören, doch da fragte er sich schon nicht mehr, weshalb er gestrauchelt war und warum sein Gefühl für Anstand, Würde und Respekt ihn nicht hatte zurückhalten können. Das Mal des Brudermords auf Kains Stirn fiel ihm ein. Der Schmerz spaltete Kopf und Körper, doch noch quälender als die Scham war ihm die Gewissheit, dass er sich die Nacht vom 19. auf den 20. April 1946 nie würde verzeihen können.
»Ich hab uns den Frühstückstisch nicht in der Küche gedeckt, sondern in meinem Zimmer«, sagte Adelheid. »Heute ist ja Ostersamstag. So ein bisschen Feiertagsgefühl braucht der Mensch. In schlechten Zeiten erst recht, sage ich immer. Weihnachten hab ich für mich ganz allein eine Kerze angezündet und Stille Nacht gesungen. Kannst du das verstehen?«
»Ich singe nie Stille Nacht.«
Das Wohnungsamt hatte Frau von Hochfeld nur ihr ehemaliges Schlafzimmer gelassen. Dort schlief sie, las, strickte aus den Pullovern ihres Mannes wollene Damensocken und wärmende Westen, stopfte
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