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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mitbekam, habe ich ihn mit meinem Friseur bekannt gemacht. Der wiederum hatte bei den Nazis seinen Mund zu weit aufgerissen und Goebbels des Teufels liebsten Krüppel genannt. Dafür hat er drei Jahre Zuchthaus kassiert und hatte fortan ein gebrochenes Verhältnis zur deutschen Justiz. Dennoch hat er Apotheker Straubinger auf meinen Rat hin einen Persilschein verschafft, in dem zu lesen war, Herr S. hätte im Krieg unter Gefahr für Leib und Leben politisch und rassisch Verfolgte mit lebensnotwendigen Medikamenten versorgt. Heute ist es nämlich mein Friseur, der dringend Medikamente braucht. Er hat einen lungenkranken Sohn und eine sieche Mutter, und er selbst hat aus dem Zuchthaus ein chronisches Magenleiden mitgebracht. Er kann sich Charakterfestigkeit nicht mehr leisten. Sie sehen, heute sind die Deutschen alle Brüder. Die Not und das Fringsen machen’s möglich.«
    »Ich bleibe lieber Einzelkind«, sagte Fritz, »jedenfalls bis zu dem Tag, da man sich seine Brüder aussuchen kann. Außerdem bin ich der Auffassung, dass ein deutscher Richter weder Dieb noch Hehler sein sollte. Wenn ich mich richtig erinnere, dürfte selbst Mundraub gegen die Berufsehre sein.«
    »Ich hab schon verstanden, doch ich werde mich für den Rest meines Lebens wurmen, dass Sie sich überhaupt erinnert haben, dass es in Deutschland Richter gibt. Nein, das nehme ich auf der Stelle zurück. Mit großem Bedauern. Im Ernst, Herr Doktor Feuereisen, ich freue mich von ganzem Herzen mit Ihnen, dass Sie die Besuche bei Ihrer Familie genutzt haben, um wieder der zu werden, der Sie waren und der Sie zu sein verdienen.«
    »Das haben Sie wunderbar umständlich ausgedrückt, gnädige Frau, aber auch wunderbar feinfühlig. Haben Sie etwa das Schreiben schon gelesen, das Sie mir heute früh mit dem Ausdruck vollkommener Gleichgültigkeit überbrachten?«
    »Natürlich nicht«, sagte Frau von Hochfeld. »Ich bin nie eine gewesen, die fremde Post über Dampf aufmacht. Neugier treibt den Vogel in die Schlinge, hat unsere Köchin immer gesagt und den Deckel auf den Topf geknallt, wenn wir Kinder sehen wollten, was es zum Mittagessen geben sollte. Aber ich habe den sechsten Sinn. Den gibt es immer noch ohne Bezugsschein. Und um Ihr Herz trommeln zu hören, muss ich nicht Medizin studiert haben.«
    »Also?«
    »Um mir vorzustellen, was ein Briefumschlag mit dem Frankfurter Oberlandesgericht als Absender bedeutet, brauche ich allerhöchstens eine durchschnittliche Portion Intelligenz und eine Prise der Beobachtungsgabe, die man uns Frauen nachsagt. Sie sind nämlich leichenblass, Monsieur, und Ihre Augenlider flattern. Zeigen Sie endlich her. Nein, lesen Sie vor. Ich merke doch, dass Sie das wollen. Recht haben Sie. ›Nur der feige Mann lässt lesen‹, hat mein Mann immer gesagt.«
    »Darf ich Sie warnen? Einem Laien erscheint alles Chinesisch, was Juristen sagen und schreiben und tun.«
    »Lesen Sie trotzdem. Meine Lieblingsvettern waren Rechtsanwälte. Sie sind beide in Russland vermisst. Ehe sie eingezogen wurden, hatten wir jeden Freitagabend unseren Jour fixe und machten der Welt den Prozess. Ich bin also Chinesisch gewohnt.«
    Es wurde Fritz schwer, seine Bewegung nicht zu zeigen. Als er den Brief auseinanderfaltete, den er in den letzten zwei Stunden so oft gelesen hatte, dass jedes Wort in ihm eingebrannt war, fiel ihm auf, wie sehr seine Hände zitterten. Beim Lesen war seine Stimme jedoch so fest und betont distanziert wie in den Tagen, da er Notar in der Frankfurter Biebergasse gewesen war und seinen Mandanten das Protokollierte hatte vorlesen müssen. »Ich bestelle Sie vorbehaltlich jederzeitigen Widerrufs alsbald und bis auf Weiteres unter Berufung in das Beamtenverhältnis zum Hilfsrichter und erteile Ihnen gleichzeitig einen Dienstleistungsauftrag bei dem Landgericht in Frankfurt (Main). Für die Dauer der Bestellung sind Sie Beamter auf Widerruf und führen die Verwendungsbezeichnung ›beauftragter Richter‹. Ich bitte Sie, den Dienst alsbald anzutreten und sich bei dem Herrn Landgerichtspräsidenten in Frankfurt (Main) zur Vereidigung zu melden. Der Unterzeichnende ist im Auftrag des Präsidenten des Oberlandesgerichts befugt worden, Ihnen mitzuteilen, dass die Beschaffung einer Dreizimmerwohnung für Sie und Ihre Tochter bereits in Angriff genommen worden ist. «
    Sie suchten beide nach dem Wort, um ihr Lebensschiff auf Kurs zu halten, doch sie fanden es nicht. Schon steuerten sie Küsten an, die Welten weit voneinander entfernt

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