Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimlich

Heimlich

Titel: Heimlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Ellroy
Vom Netzwerk:
sich das Violinspiel bei und hörte sich auf seinem neuerworbenen Grammophon kratzige Beethoven-Schallplatten an. Die beiden Männer schlossen einen bitteren Waffenstillstand, der aber auch von gegenseitigem Respekt getragen war. Obwohl nicht blutsverwandt, waren ihre Bande fest. Trotz der Nachbarschaft ihrer Grundstücke trafen sie sich selten. Wenn sie miteinander verkehrten, behandelten sie sich mit der übertriebenen Ehrerbietung von Leuten, die sich gegenseitig fürchteten.
    Ihre Mitbürger hielten beide für Außenseiter. Sie waren durch etwas anderes bestimmt, das, wie die Leute meinten, nicht auf ihrer Zurückhaltung basierte, sondern auf einem faszinierenden, geheimen Wissen, das aus ihren Augen sprach.
    Es war ein Wissen, das an die nächste Generation weitergegeben wurde. Die Leute aus Tunnel City erkannten das auch, sobald Will und Marcella gehen und reden konnten und auf ihre Umwelt reagierten, von der sie wußten, daß sie nicht gut genug für sie war.
    Marcella DeVries und die Zwillinge Will und George Berglund wurden 1912 im Abstand von drei Monaten geboren. Marcella wurde als erste geboren. Piet war außer sich vor Freude. Er hatte sich ein Mädchen gewünscht und eins bekommen - pausbäckig und rosig und rothaarig wie er selbst. Willem wollte einen männlichen Erben und bekam einen - gleich zweimal. Aber George war ein kränkliches Kind, er wog bei der Geburt nur halb soviel wie sein gesunder Zwillingsbruder und wurde rasch als hoffnungslos zurückgeblieben eingestuft. Im Alter von drei Jahren, als Will schon beinahe wie ein präzise formulierender, gebildeter Erwachsener sprach, konnte George noch nicht stehen, er sabbelte wie ein Idiot und flatterte mit den Armen wie ein Huhn.
    Willem haßte das Kind. Er sah ihn als eine scheußliche Bestrafung an, von einem haßerfüllten Gott erteilt, mit dem er nichts mehr anfangen konnte. Er haßte seine Frau, er haßte Gott, er haßte den Kohl und er haßte Tunnel City, Wisconsin. Aber am allermeisten haßte er wahrlich Piet DeVries.
    Piet schien aufzublühen. Er liebte seine Frau, er liebte seine Violine, er liebte sein Grammophon und er liebte seine Kinder: die frühreife Marcella mit den roten Haaren und den schimmernden grünen Augen, deren dunkle Sommersprossen haufenweise überall in ihrem hübschen Gesicht auftauchten; obwohl sie willensstark und verwöhnt bis zu einem Grad war, der sie zu einer Tyrannin machte, wenn sie nicht ihren Willen bekam, war sie trotz allem die stürmisch liebende Tochter, die er sich immer erträumt hatte; und der kleine Johnny, der bei seiner Geburt zwölf Pfund gewogen hatte - er lachte, war glücklich, ein plumper kleiner Riese, der Liebling aller. Immer, immer lachte er. »Mein kleiner Dinosaurier«, nannte Piet ihn, dann zog er am unsichtbaren Schwanz am Rumpf des Jungen, und Vater und Sohn lachten, bis ihnen Tränen in die Augen traten.
    George Berglund, der nie gehen und sprechen lernte, starb 1919 an Scharlach. Er war sieben Jahre alt. Willem begrub ihn in einem Leinensack in einem flachen Grab neben dem Werkzeugschuppen hinter seinem Haus. Piet überquerte die Straße, um dem Mann sein Beileid zu bezeugen, mit dem er über ein Jahr lang nicht mehr gesprochen hatte. Willem schlug ihm ins Gesicht, bevor er ein Wort sagen konnte.
    Hasse Berglund starb im Jahr darauf. Wiederholte Male von seinen Heimgenossen sexuell mißbraucht, konnte er es nicht länger ertragen und stürzte sich vom oberen Rand in einen tiefen Granitsteinbruch, in dem die Heiminsassen arbeiten mußten.
    Der Heimleiter schrieb Willem einen Brief und verlangte von ihm zweihundert Dollar, »für ein anständiges christliches Begräbnis« für den »Jungen«. Er bekam das Geld nie. Willem vergaß einfach, es zu schicken. Er hatte andere Dinge im Kopf. Er mußte Piet DeVries vernichten. Spätabends redete er mit Anna darüber. Der junge Will lauschte an der Schlafzimmertür: Piet war für den Tod von Lars und Hasse verantwortlich gewesen - und sogar für den kleinen Deppen George. Das war die Vergangenheit, und es reichte. Aber jetzt wollten Piet und seine kleine rothaarige Hexe Willems goldenen Will, sein einziges Fleisch und Blut, mit Dichtung und Musik und Gott weiß was zerstören. Gott! Dann schrie Willem die schluchzende Anna an, außerhalb seines Landes und seiner Familie gäbe es keinen Gott, und das würde er Piet schon beibringen, bei Gott!

    Marcella und Will kannten sich, durch Instinkt, durch Verstand, sie kannten sich auswendig. Mit dem

Weitere Kostenlose Bücher