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Heimlich

Heimlich

Titel: Heimlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Ellroy
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Raums. Er fingerte fünf Minuten lang darin herum, zog endlich eine Akte raus und brachte sie mir.
    Ich wurde langsam nervös. Kraus hing schon lange am Telefon, und es war erst sechs Uhr früh in Hollywood. Dieses sich hinziehende Gespräch um diese Zeit kam mir merkwürdig vor.
    Auf dem Deckel der Akte stand getippt: »DeVries, John Piet; 11. 6.14«. Ich schlug sie auf. Als ich die Fotos sah, die auf die erste Seite geklammert waren, fingen meine Hände an zu zittern, und meine Gedanken sprangen gleichzeitig vor und zurück. Ich sah das Gesicht von Michael Harris. Jede Kurve, jede Fläche, jeder Winkel war identisch. Es war mehr als eine normale Familienähnlichkeit; es war die elterliche Ähnlichkeit. Johnny war Michaels Vater, aber wer war seine Mutter? Marcella konnte es nicht sein. Mit zitternden Händen blätterte ich die erste Seite um, bekam den nächsten Schock: John DeVries hatte Margaret Cadwallader aus Waukesha, Wisconsin, als nächste Verwandte angegeben, als er 1946 wegen tätlichen Angriffs und Körperverletzung verhaftet wurde.
    Ich legte die Mappe hin und merkte plötzlich, daß ich nach Luft schnappte. Floyd Lutz war zum Wasserspender geeilt und warf mir jetzt einen Becher voll Wasser ins Gesicht.
    »Underhill«, sagte er. »Underhill? Was zum Teufel ist los mit Ihnen? Underhill?«
    Ich fing mich wieder. Ich kam mir vor wie ein Irrer, der durch göttliche Heimsuchung wieder normal geworden war; wie einer, der zum ersten Mal die Wirklichkeit wahrnimmt.
    Ich versuchte, ganz ruhig zu klingen: »Mir geht’s gut. Dieser DeVries hat mich nur an jemand erinnert, den ich in meiner Jugend kannte. Das ist alles.«
    »Wollen Sie mir keine ehrliche Antwort geben? Mann, Sie sehen aus, als wären Sie gerade vom Mars gekommen.«
    »Ha, ha!« Mein Gelächter klang auch in meinen Ohren gekünstelt, also las ich weiter in John DeVries’ Akte, um weitere Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen; unzählige Verhaftungen wegen Trunkenheit, Körperverletzung, leichten Diebstahls und Hausfriedensbruchs; ein Dutzend Inhaftierungen zu je 30 oder 45 Tagen im Milwaukee-County-Zuchthaus; aber nichts sonst wies auf Blut hin. Keine weitere Erwähnung von Maggie Cadwallader, von Marcella, von Kindern.
    Als ich fertig war und aufblickte, starrte Walt Kraus auf mich. »Ich hab’ ein bißchen auf den Busch geklopft und bekommen, was Sie wollten«, sagte er. »Der Raub war groß angelegt, von einem Flugzeugträger, der unterwegs in den Pazifik war. Vierzig Pfund Morphium -genug, um jedes Lazarettschiff der Flotte und noch ’n paar mehr zu versorgen. Drei Verbindungsoffiziere von den Marines bewachten das Zeug. Jemand hat ihnen was eingeflößt, und sie wurden ohnmächtig. Das Ding wurde um drei Uhr morgens gedreht. Das Revier wurde blitzsauber geräumt. Es kam nie in die Zeitung, weil die Großkotze von der Marine mit dem Schwamm drübergingen. DeVries und seine Schwester und noch zwei waren stark verdächtig - sie hatten alle Zugang zum Medikamentenlager, aber sie hatten alle wasserdichte Alibis. Sie wurden alle mehrfach verhört, als unentbehrliche Zeugen eingebuchtet und schließlich freigelassen. Der Stuff wurde nie entdeckt. Sie -«
    »Wie hießen die beiden anderen Verdächtigen?« platzte ich heraus.
    Kraus sah auf den Zetteln nach, die er in der Hand hielt. »Die Maate Lawrence Brubaker und Edward Engels. Underhill, was zum Teufel ist los mit Ihnen?«
    Ich stand auf, und der Raum, Kraus und Lutz drehten sich vor meinen Augen.
    »Underhill?« rief Lutz, als ich mich auf den Weg machte. »Underhill!«
    »Rufen Sie Will Berglund an«, rief ich meines Wissens nach zurück.
    Irgendwie gelangte ich aus der Polizeiwache und in das heiße Sonnenlicht Milwaukees. Jedes Auto und jeder Passant auf der Straße, jedes Bruchstück der vorüberziehenden Szene, jede Welle der Skyline aus rotem Backstein sah so ehrfurchteinflößend und unglaublich aus wie das Leben aus der Sicht eines Babys, das gerade aus dem Bauch gekrochen kommt.

21
    Es gab nur eine Cadwallader im Telefonbuch von Milwaukee-Waukesha: Mrs. Marshall Cadwallader, 311, Cutler Park Avenue, Waukesha. Ohne erst anzurufen, fuhr ich direkt dahin, wieder zurück über die Blue Mound Road.
    Cutler Park Avenue war ein Block ehemals schicker Stadthäuser, die in Mehrfamilienhäuser umgewandelt worden waren. Cutler Park selbst - »Wisconsins größte Schau original indianischer Kunst« - lag auf der anderen Straßenseite.
    Ich parkte meinen Leihwagen und machte mich auf die Suche

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