Heimlich
nach Nr. 311. Ich stellte fest, daß die Hausnummern unerklärlicherweise nicht immer in der richtigen Reihenfolge verliefen. Nr. 311 war am Ende des Blocks, ein zweigeschossiges Wohnhaus, bewacht von einem Jockey aus Gips mit ausgestrecktem Arm. Die Haustür stand offen, und die Übersichtstafel in der kleinen Eingangshalle sagte mir, daß Mrs. Marshall Cadwallader im Appartment 103 wohnte. Ich vermutete, daß Mrs. Cadwallader Witwe war, was mir gelegen kam: Eine alleinstehende Frau würde leichter auszufragen sein.
Mein Puls raste, als ich mir die Fotos ins Gedächtnis rief, die Maggie mir von ihrem abenteuerlich aussehenden Vater gezeigt hatte. Ich ging einen Flur entlang, an dessen Wänden billige Bilder von Südstaaten-Plantagen hingen, bis ich Nr. 103 fand. Ich klopfte, und das genaue Abbild von Maggie Cadwallader - wäre sie fünfundsechzig geworden - öffnete die Tür.
Aufgeschreckt durch das Vertauschen von Ort und Zeit, merkte ich, wie sich mein mir inzwischen vertrautes Versicherungsmärchen in Luft auflöste, und ich stammelte: »Mrs. Cadwallader, ich bin ein Freund Ihrer verstorbenen Tochter. Ich war mit der Untersuchung...« Die Frau erbleichte, als ich zögerte. Sie sah erschrocken aus, und es schien, als wollte sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen, als ich mich gefangen hatte und fortfuhr: » ...ihres Todes 1951 für die Polizei von Los Angeles beauftragt. Ich arbeite jetzt als Versicherungsdetektiv.« Ich gab ihr eine meiner Karten und glaubte fast schon selbst, im Versicherungsgewerbe tätig zu sein.
Die Frau nahm meine Karte und nickte. »Und Sie...«, sagte sie.
»Und ich glaube, daß noch andere Todesfälle mit Margarets zusammenhängen.«
Mrs. Cadwallader führte mich in ihr bescheidenes Wohnzimmer. Ich setzte mich auf ein Sofa, das mit einer Navajo-Decke überzogen war. Sie saß mir gegenüber in einem Korbsessel. »Sie waren ein Freund von Maggie?« fragte sie.
»Nein, tut mir leid, ich meine... Das hab’ ich nicht gemeint. Ich war einer von vier Kriminalbeamten, die mit dem Fall befaßt waren. Wir -«
»Sie verhafteten den Falschen, und der erhängte sich«, sagte sie nüchtern. »Ich kann mich an Ihr Bild in der Zeitung erinnern. Sie wurden gefeuert. Die nannten Sie einen Kommunisten. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, wie traurig das war, daß Sie einen Fehler machten, und daß die Sie loswerden mußten, deshalb haben die das behauptet.«
Ich spürte, wie mich ein ganz merkwürdiges Gefühl der Absolution beschlich.
»Warum sind Sie hier?« fragte Mrs. Cadwallader.
»Kannten Sie eine Frau namens Marcella DeVries Harris?« entgegnete ich.
»Nein. War sie Johnny DeVries’ Schwester?«
»Ja. Sie wurde letzten Monat in Los Angeles ermordet. Ich glaube, ihr Tod hing mit Margarets zusammen.«
»O mein Gott.«
»Mrs. Cadwallader, hatte Margaret ein uneheliches Kind?«
»Ja.« Sie sagte es streng und ohne Scham.
»1945 oder so etwa?«
»Am 29. August 1945.«
»Ein Junge?«
»Ja.«
»Und das Kind...«
»Sie haben das Kind weggegeben!« kreischte Mrs. Cadwallader plötzlich. »Johnny war drogenabhängig, aber Maggie war in Ordnung! In Ordnung wie alle Cadwalladers und Johnsons! Sie hätte einen lieben Mann finden können, der sie geliebt hätte, sogar mit dem Kind eines anderen Mannes. Maggie war ein liebes Mädchen! Sie hätte sich nicht mit Drogenabhängigen abgeben müssen! Sie war ein liebes Mädchen!«
Ich ging zu Michael Harris’ Großmutter hinüber und legte ihr beruhigend einen Arm auf ihre bebenden Schultern. »Mrs. Cadwallader, was geschah mit Maggies Kind? Wo wurde es geboren? Wem haben es Maggie und Johnny gegeben?«
Sie befreite sich aus meinem Griff. »Mein Enkel wurde in Milwaukee geboren. Irgendein Kurpfuscher hat ihn entbunden. Ich kümmerte mich nach der Geburt um Maggie. Das Jahr zuvor hatte ich meinen Mann verloren, dann verlor ich Maggie. Ich habe meinen Enkel nie gesehen.«
Ich hielt die alte Frau ganz fest. »Schsch«, flüsterte ich. »Schsch. Was geschah mit dem Baby?«
Zwischen Schluchzern, die ihren ganzen Körper erschütterten, brachte Mrs. Cadwallader es heraus: »Johnny steckte ihn in ein Waisenhaus in der Nähe von Fond-du-Lac - irgendeine Sekte, an die er glaubte -, und ich hab’ ihn nie gesehen.«
»Vielleicht werden Sie ihn eines Tages sehen«, sagte ich ruhig.
»Nein! Nur eine Hälfte von ihm ist meine Maggie! Die tote Hälfte! Die andere Hälfte ist dieser große, dreckige, holländische Drogenfresser, und das ist die
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