Heimlich
Hälfte, die noch lebt!«
Ich konnte ihrer Logik nicht widersprechen. Sie war außerhalb meiner Reichweite. Ich sah einen Stift auf dem Tisch liegen und schrieb ihr meine richtige Telefonnummer auf die Rückseite meiner falschen Visitenkarte. Ich steckte sie Mrs. Cadwallader in die Hand.
»Rufen Sie mich zuhause an, in einem Monat oder so«, sagte ich. »Ich werde Sie Ihrem Enkel vorstellen.«
Mrs. Marshall Cadwallader starrte ungläubig auf die Karte. Ich lächelte sie an, aber sie reagierte nicht.
»Glauben Sie mir«, sagte ich. Ich sah, daß das nicht der Fall war. Ich ging, und sie starrte stumm auf den Teppich in ihrem Wohnzimmer und versuchte, sich aus ihrer Vergangenheit zu befreien.
»Mein Baby. Meine Liebe.«
»Wo ist es?«
»Sein Vater hat ihn mitgenommen.«
»Bist du geschieden?«
»Er war nicht mein Ehemann. Er war mein Liebhaber. Er starb an unserer Liebe.«
»Wie?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Was geschah mit dem Baby?«
»Es ist in einem Waisenhaus. Im Osten.«
»Warum bloß, Maggie? Waisenhäuser sind furchtbar.«
»Sei still! Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht behalten!«
Ich rannte auf der Suche nach einer Telefonzelle durch Cutler Park. Ich entdeckte eine und sah auf die Uhr: Zehn Uhr fünfzehn, das hieß acht Uhr fünfzehn in Los Angeles. Die Chancen standen 50:50. Entweder Doc oder Michael würden an den Apparat gehen.
Ich wählte die Vermittlung, und sie sagte, ich solle neunzig Cents einwerfen. Ich fütterte den Apparat und hörte das Klingeln am anderen Ende der Leitung.
»Hallo?« Es war unverkennbar Michaels Stimme. Ich sackte vor Erleichterung zusammen.
»Mike, ich bin’s, Fred.«
»Hi, Fred!«
»Mike, geht’s dir gut?«
»Klar.«
»Wo ist dein Vater?«
»Im Schlafzimmer. Er schläft noch.«
»Dann sprich leise.«
»Was ist denn los, Fred?«
»Pssst. Mike, wo bist du geboren?«
»Wa-was? In L.A. Wieso?«
»In welchem Krankenhaus?«
»Weiß ich nicht.«
»Wann hast du Geburtstag?«
»Am 29. August.«
»1945?«
»Ja. Fred -«
»Mike, was ist in dem Haus in der Scenic Avenue passiert?«
»Dem Haus -«
»Du weißt doch, Mike; die Freunde, bei denen du gewohnt hast, solange deine Mutter unterwegs war, vor vier Jahren -«
»Fred, ich...«
»Sag’s mir, Mike!«
»Da-Daddy hat die Kerle verprügelt. Daddy sagte, die würden nie wieder kleinen Jungen weh tun.«
»Aber die haben dir doch nichts getan, oder?«
»Nein! Die waren nett zu mir! Ich sagte Daddy, daß -« Michaels Stimme war zu einem schrillen Jaulen geworden. Ich hatte Angst, er würde Doc wecken.
»Mike, ich muß jetzt gehen. Versprichst du mir, deinem Vater nichts von meinem Anruf zu erzählen?«
»Ja. Versprochen.«
»Ich lieb’ dich, Mike«, sagte ich und traute meinen Ohren nicht. Ich legte auf, bevor Michael antworten konnte.
Diesmal brauchte ich knapp fünfundzwanzig Minuten nach Milwaukee zurück. Im Lauf von drei quälenden Stunden war mir die Blue Mound Road richtig vertraut geworden.
Als ich die Stadtgrenze erreicht hatte, dort, wo die Blue Mound Road in die Wisconsin Avenue übergeht, hielt ich an einer Tankstelle und fragte den Wärter, wie ich zur Marquette University und in das Slumviertel käme.
»Die sind in Rufweite zueinander«, sagte der Junge. »Fahren Sie die Wisconsin Avenue bis zur 27. Straße, dann links, bis Sie auf die State Street stoßen. Halten Sie nicht die Luft an, aber halten Sie Ihre Nase zu.«
Marquette University erstreckte sich über zehn ganze Blocks am Rande eines Slumviertels, das es an Elend und schierer Verzweiflung mit der 5 th Street in Los Angeles aufnehmen konnte - Bars, Schnapsläden, Blutspendestationen und Rette-deine-Seele-Missionen aller Glaubensrichtungen, die man sich vorstellen konnte. Ich parkte meinen Wagen Ecke 27 th und State Street und lief los. Ich ging im Slalom durch Trauben von Pennern und Lumpensammlern, die Flachmänner kreisen ließen und wild miteinander gestikulierten. Sie brabbelten in einer Schnapssprache, die sich aus Einsamkeit und Groll zusammensetzte.
Ich achtete fünf Sekunden nicht auf den Weg und knallte aufs Pflaster; ich war über einen alten Mann gestolpert, der von der Hüfte aufwärts nackt war, sein Unterkörper war in einen benzingetränkten Tweedmantel gehüllt. Ich stand auf und klopfte mich ab, dann versuchte ich, dem alten Mann aufzuhelfen. Ich faßte nach seinen Armen, dann sah ich die wunden Stellen darauf und hielt inne. Der alte Mann bemerkte das und fing an zu gackern. Dann faßte ich
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