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Heimlich

Heimlich

Titel: Heimlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Ellroy
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statt dessen nach einem Zipfel seines Mantels, aber er wälzte sich weg von mir wie ein Derwisch, bis er in der Gosse lag, in einem See von Abwasser und Zigarettenkippen. Er verfluchte mich und zeigte mir kraftlos seinen Mittelfinger.
    Ich ließ ihn liegen und ging weiter. Nach drei Blocks war mir klar, daß ich gar kein Ziel hatte und mich außerdem die Slumbürger für einen Cop gehalten hatten: Meine Größe und mein frischer Sommeranzug brachten mir Blicke voll Angst und Haß ein. Wenn ich richtig mitspielen würde, könnte ich das zu meinem Vorteil nutzen, ohne jemandem weh zu tun.
    Mir fiel ein, was Kraus und Lutz mir gesagt hatten: George Melveny, der »Professor«, George Melveny, der »Uhu«, ehemaliger Chemielehrer an der Marquette, war zuletzt gesehen worden, wie er vor der Jesus-rettet-Mission an einem Lumpen lutschte. Es war schon fast Mittag, und die Temperatur stieg gewaltig. Ich wollte meine Jacke ausziehen, aber das ging nicht: Die Slumbewohner würden sehen, daß ich keine Knarre trug und daher auch kein Cop wäre. Ich hielt an und suchte das ganze Viertel mit Blicken ab: Keine Spur von der Jesus-rettet-Mission. Einer Eingebung folgend, verdrückte ich mich in einen Schnapsladen und kaufte mir zwanzig Flachmänner. Meine Leber zitterte, als ich zahlte, und der Besitzer warf mir den merkwürdigsten Blick meines Lebens zu, während er das Gift in eine große Papiertüte füllte. Ich fragte ihn nach dem Weg zur Jesus-rettet-Mission, und er kicherte und zeigte in Richtung Osten, wo der Slum am Milwaukee River endete.

    Als ich der Mission näher kam, stand eine Schlange von hungrig aussehenden Bedürftigen da, die sich um den halben Block erstreckte und die offensichtlich alle auf ihr Mittagessen warteten. Einige von ihnen bemerkten mich und stießen sich an - schlechte Nachrichten waren im Anmarsch. Sie täuschten sich: Es war Weihnachten im Juli.
    »Der Weihnachtsmann ist da!« schrie ich. »Er hat ’ne Liste gemacht und hat sie zweimal überprüft und er hat festgestellt, daß ihr alle einen Drink verdient!«
    Als ich nur verdutzte Blicke erhielt, langte ich in die Tüte und zog einen Flachmann heraus. »Wein für alle, umsonst!« brüllte ich. »Bargeld für jeden, der mir sagen kann, wo ich George Melveny, den ›Uhu‹, finden kann!«
    Da setzte ein wahrer Massenansturm auf mich ein. Die Jesus-rettet-Mission und ihr armseliges Essen waren vergessen. Ich war der Mann mit den wahren Leckereien, und unzählige Penner und Penneusen faßten schmeichlerisch nach mir, zitternde Hände stießen in die Richtung der braunen Papiertüre, die ich auf meiner Schulter in Sicherheit gebracht hatte. Sie kreischten mir Informationen zu, Leckerbissen, Trugschlüsse und Beinamen:
    »Scheiße, Mann.«
    »Uhu, Schuhuh!«
    »Schwester Ramona!«
    »Hirnfurz!«
    »Her damit, her damit, her damit!«
    »Geh zur Schwester!«
    »Handzettel!«
    »Uhu!«
    »O Gott! O Gott!«
    »Arrrgh!«
    Die Menge drohte mich in die Gosse zu treiben, also setzte ich meine Tüte auf dem Gehsteig ab und wich zurück, als sie sich wie die Geier darauf stürzten. Stoßen und Schieben folgten, und zwei Männer balgten sich auf der Straße und kratzten und hieben sich kraftlos ins Gesicht.
    In Minutenschnelle waren alle zwanzig Flaschen entweder zerbrochen oder vergriffen, und die traurigen Gluckser hatten sich zerstreut, um ihre Medizin einzunehmen, außer einem besonders gebrechlichen, traurig dreinschauenden Alten in abgerissenen Hosen und einem T-Shirt der Milwaukee Braves und einer Baseballmütze der Chicago Cubs. Er starrte mich nur an und wartete am Anfang der Essensschlange, zusammen mit einigen anderen Bedürftigen, die an meinem Angebot nicht interessiert waren.
    Ich ging zu ihm hinüber. Er war blond, und seine Haut war nach jahrelangem Leben im Freien in einem hellen Krebsrot verbrannt. »Trinkst du nicht?« fragte ich.
    »Ich kann es auch sein lassen«, sagte er, »im Gegensatz zu manchen anderen.«
    Ich lachte. »Gut gesagt.«
    »Was wollen Sie denn vom ›Uhu‹? Der tut doch keinem was.«
    »Ich will bloß mit ihm reden.«
    »Der will nur in Ruhe an seinem Lumpen lutschen. Der braucht keine Cops, die ihn belästigen.«
    »Ich bin kein Cop.« Ich machte meine Jacke auf, um ihm zu zeigen, daß ich kein Eisen umhatte.
    »Das heißt noch gar nichts«, sagte er.
    Ich seufzte und log: »Ich arbeite für eine Versicherungsgesellschaft. Marquette schuldet Melveny noch ein bißchen Geld. Deshalb suche ich ihn.«
    Ich sah, daß der

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