Heimliche Wuensche
die Straße vor sich.
Die Begrüßung zu Hause war schlimmer, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie hatte ihren Vater noch nie so wütend erlebt.
»Du hättest tot sein können«, brüllte er. »Deine Schwester und ich — ja, halb Chandler waren die ganze Nacht hindurch auf den Beinen und suchten überall nach dir. Wir waren krank vor Sorge, während du . . . du . . .« Er war zu zornig, um den Satz beenden zu können.
Terel hatte da weniger Probleme. Sie weinte in ihr Spitzentaschentuch. »Du hast mich zum Gespött von Chandler gemacht. Meine Schwester treibt sich mit diesem Mann herum und kommt abends nicht nach Hause. Wo hast du die Nacht verbracht? Bei ihm?«
Bei jedem Wort, das die beiden sprachen, wuchsen Nellies Schuldgefühle. Wenn ihre Schwester oder ihr Vater ohne eine Nachricht von zu Hause weggeblieben wären, wäre sie auch todkrank gewesen vor Sorge. Ein Teil von ihr war froh darüber, daß Jace den Zettel vernichtet hatte, weil sie sonst nicht diese himmlischen vierundzwanzig Stunden erlebt hätte, an die sie sich bis zu ihrem Lebensende erinnern würde. Ein anderer Teil in ihr war sehr bekümmert darüber, daß sie ihrer Familie so viel Ungemach bereitet hatte.
»Ich glaube nicht, daß du noch etwas für uns übrig hast«, schluchzte Terel. »Es ist dir egal, ob wir deinetwegen leiden müssen.«
»Es ist mir ganz und gar nicht egal«, erwiderte Nellie zerknirscht.
»Aber wie kann man verhindern, daß so etwas noch einmal passiert? Mir scheint, dieser Mr. Montgomery braucht nur einen Finger zu krümmen, und schon kommst du zu ihm gerannt.«
»So ist es nicht«, erwiderte Nellie, wußte aber, daß ihre Schwester recht hatte. Wenn Jace sie noch einmal aufforderte, mit ihm wegzugehen, würde sie das vermutlich tun. »Es tut mir leid, wenn ich dir Kummer gemacht habe. Es tut mir ehrlich leid.« Ihr kamen jetzt auch die Tränen. Sie hatte sich tatsächlich sehr rücksichtslos ihrer Familie gegenüber verhalten. »Ich wünschte . . .«
»Was wünschst du dir?« fragte ihr Vater streng.
»Ich wünsche mir, daß ihr beide von mir bekommt, was ihr von mir verlangt«, sagte sie und rannte schluchzend aus dem Zimmer.
Terel und Charles starrten ihr nach. In einer Sache waren die beiden sich einig: Was sie von Nellie verlangten, war, daß sie ihrer Bequemlichkeit nicht im Wege stand. Tatsächlich hatten sie sich beide keine großen Sorgen um Nellie gemacht, sondern waren nur darüber wütend gewesen, daß sie auf ihre Bedienung hatten verzichten müssen. Denn Charles hatte gestern abend nichts Warmes zu essen bekommen, und Terel hatte einen Teil ihrer Kleider ungebügelt vorgefunden, als sie nach Hause kam. Und heute mußte sie ihre Einladung zum Tee absagen, weil Nellie nicht zu Hause geblieben war, um die Kuchen und Plätzchen für die Gäste zu backen.
»Das ist ein Wunsch, der hoffentlich in Erfüllung geht«, murmelte Charles.
Terel war auf dem Weg zu ihrer Schneiderin in der Coal Avenue. Sie brauchte nur noch einmal ihr Ballkleid anzuprobieren, und dann würde es fertig sein. Sie hatte viel zu viel Geld für dieses Kleid ausgegeben; aber sie machte sich jetzt noch keine Sorgen, wie wütend ihr Vater sein würde, wenn er die Rechnung dafür bekam. Sie freute sich vielmehr auf das Kleid. Es war mit über hundert pinkfarbenen Rosen auf Rock und Mieder bestickt. Die kurzen Ärmel waren mit mehreren Lagen Spitzen versehen, und der gefaltete Überrock aus pinkfarbener Seidencharmeuse war mit einem Rock aus Spitzen unterlegt.
Sie mußte schon jetzt bei dem Gedanken lächeln, was für ein Aufsehen sie bei den Taggerts erregen würde, wenn sie in diesem Kleid im Ballsaal Einzug hielt. Tatsächlich hatte sie in vielerlei Hinsicht Grund zum Lächeln. Einmal darüber, daß sie zu ihrer Überraschung doch noch eine Einladung zum Erntedankfest erhalten hatte. Sie war überzeugt gewesen, daß sie nach diesem Techtelmechtel mit den beiden Jünglingen auf dem Ball im vergangenen Jahr für immer von der Gästeliste der Taggerts gestrichen worden sei. Aber Terel vermutete, daß sie inzwischen so beliebt war in Chandler, daß es sich die Taggerts einfach nicht leisten konnten, sie zu übergehen. Zweitens war Nellie in den letzten vier Tagen die reine Freude gewesen. Noch nie hatte der Haushalt so reibungslos funktioniert wie jetzt. Die Mahlzeiten waren nicht nur auf die Sekunde pünktlich auf den Tisch gekommen, sondern hatten auch noch nie so gut geschmeckt. Und Terels Kleider hingen alle tadellos gebügelt in
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