Heimliche Wuensche
ihrem Kleiderschrank.
Über Nellies unentschuldigtes Fernbleiben von zu Hause war kein Wort mehr verloren worden, und von Mr. Montgomery hatten sie inzwischen auch nichts mehr gehört oder gesehen. Nachdem es wochenlang dieses Mannes wegen Pannen und Aufregungen im Haus gegeben hatte, schien der Haushalt der Graysons wieder in den Normalzustand zurückgekehrt zu sein. Nur in zweierlei hatte sich die Situation der Familie Grayson dauerhaft verändert: Terel war zweifellos die am heftigsten umschwärmte junge Dame von Chandler und konnte unmöglich alle Einladungen wahrnehmen, die ihr ins Haus geschickt wurden. Und das Geschäft ihres Vaters schien besser zu gehen als je zuvor.
Als Terel eine Stunde später vor dem Spiegel im Anprobezimmer ihrer Schneiderin stand, betrachtete sie sich in ihrem neuen Ballkleid und lächelte zufrieden. Da schien kein einziges Wölkchen mehr den blauen Himmel zu trüben.
»Ja, es sitzt perfekt«, sagte Terel. »Schicken Sie es zu mir nach Hause.«
Die Schneiderin war glücklich, daß sie Terel endlich hatte zufriedenstellen können. Die vielen Rosen, die sie auf das Kleid sticken mußte, hatten sie viel Arbeit gekostet. »Soll ich Nellies Kleid gleich mitschicken?«
Terel hörte auf, Pirouetten vor dem Spiegel zu drehen. »Nellies . . . was?«
»Nellies Kleid für den Erntedankfestball. Soll ich Nellies Kleid mit Ihrem zusammen zustellen, oder will sie zu einer letzten Anprobe hierherkommen?«
Terel war so beschäftigt gewesen in den letzten Tagen, daß sie ganz vergessen hatte, daß Nellie ebenfalls zu den geladenen Gästen gehörte.
»Lassen Sie mich das Kleid mal sehen«, flüsterte Terel.
»Aber gern«, meinte die Schneiderin lächelnd und trat hinter den Vorhang ihres Arbeitsraumes. »Ich bin sehr stolz darauf. Ich halte es für eines meiner besten Kreationen. Ich wußte gar nicht, daß Nellie einen so ausgezeichneten Geschmack hat, was Kleider betrifft. Aber die ganze Stadt redet ja inzwischen davon, daß es so vieles gäbe, was man bisher an Nellie gar nicht bemerkt hätte. Ich zum Beispiel habe nie gewußt, daß sie eine Schönheit ist.«
Die Schneiderin kam wieder hinter dem Vorhang hervor, ein eisblaues Satinkleid über den Arm gehängt. »Nellie sieht wunderbar aus in diesem Kleid — einfach wundervoll.«
Das Kleid war sehr schlicht, tief ausgeschnitten und schulterfrei, und Terel sah sofort, daß Nellie tatsächlich sehr gut in diesem Kleid aussehen mußte.
Die Schneiderin blickte betroffen in Terels bekümmertes Gesicht. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Vielleicht wollte Nellie, daß ihr Ballbesuch eine Überraschung sein sollte, und nun habe ich ihr diese Freude verdorben.«
»Ja«, erwiderte Terel, die versuchte, ihre Fassung wiederzufinden, »ich glaube, das sollte wohl tatsächlich eine Überraschung werden. Ich hoffte zwar sehr, daß Nellie diesen Ball besuchen könne, war mir aber nicht sicher, ob sie die Zeit dafür findet.«
»Nellie hat mir etwas Ähnliches angedeutet. Tatsächlich war es eine sehr eigenartige Begründung, wie ich meine. Sie sagte, weil Sie und Ihr Vater an diesem Abend nicht zu Hause sein würden, wäre es Ihrem und dem Wohlbefinden Ihres Vaters nicht abträglich, wenn sie zum Ball ginge. Wär das nicht eine seltsame Erklärung für einen Ballbesuch? Daß er Ihrem Wohlbefinden nicht abträglich ist?«
Terel drehte sich von Nellies herrlichem Ballkleid weg. »Vielleicht sollten Sie doch lieber beide Kleider getrennt zustellen, damit ich auch geziemend überrascht bin, wenn ich es sehe.«
»Ja, natürlich. Das ist eine gute Idee.«
Später, als Terel wieder auf der Straße war, wußte sie, was sie unternehmen würde. Sie machte einen Umweg und kaufte in einem Kaufhaus einen großen Sack Murmeln.
Nellie glättete das Ballkleid, nachdem sie es auf dem Bett ausgebreitet hatte. Als sie mit den Fingerspitzen über die Seide hinstrich, wurde sie von einem erregenden, erwartungsvollen Gefühl ergriffen. Sie wußte, daß dieser Abend etwas ganz Besonderes sein würde. Einen Moment lang schloß sie die Augen und sah sich mit Jace einen Walzer tanzen.
Ein Klopfen an der Tür holte sie in die Gegenwart zurück. Ihr erster Gedanke war, das Kleid zu verstecken, aber Terel kam schon ins Zimmer, ehe Nellie ihren Vorsatz ausführen konnte.
»Nellie, ich wundere mich . . .« begann Terel und sah dann das Kleid. »Wie schön . . . unglaublich schön.« Sie blickte Nellie überrascht an. »Ich habe vollkommen vergessen, daß du heute abend
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