Heimliche Wuensche
die Murmeln vom Boden aufzuheben. »Nein, das werde ich nicht. Was für eine Schwester würde ich wohl sein, wenn ich dich hier allein zu Hause ließe, und außerdem war es ja meine Tinte, die dir das Kleid verdorben hat. Und ich habe auch die Murmeln gekauft. Und es war mein Hustenanfall gewesen, der sie vom Tisch geworfen hat. Ich hätte nicht husten dürfen. Ich verstehe gar nicht, warum ich in letzter Zeit so oft husten muß. Ich sollte unbedingt zu Dr. Westfield gehen und mich untersuchen lassen. Wahrscheinlich hätte er mir verboten, zum Ball zu gehen, und mir Ruhe verordnet. Wir werden hinuntergehen in die Küche und Plätzchen backen, die du dann ganz allein aufessen kannst. Ja, Nellie, das werden wir tun. Willst du mir jetzt aus meinem Kleid helfen? Du fandest es ja ohnehin häßlich, und warum soll ich es da noch . . .«
Terels Bemerkung lenkte Nellie nun von ihrem Kummer ab. »Dein Kleid ist schön, und du bist schön, und du mußt unbedingt auf den Ball gehen.«
Nellie brauchte eine Dreiviertelstunde, um Terel zu überreden, ohne sie auf den Ball zu gehen. Ihr Kavalier traf ein und mußte eine halbe Stunde unten im Salon warten, während Nellie Terel zu überreden versuchte, daß sie ohne sie zum Ball gehen müsse. Und endlich verließ Terel mit ihrem Begleiter in einem Wirbel aus Rosen, Spitzen und pinkfarbener Seide das Haus, und Nellie schloß die Tür hinter den beiden.
Sie trug immer noch ihr blaues Ballkleid, und der Tintenfleck reichte nun fast über den ganzen Rock. Der Hunger überfiel sie — ein mächtiger, nagender Hunger. Sie schob sich von der Haustüre weg und wollte sich gerade auf den Weg in die Küche machen, als ein Klopfen an der Haustür sie wieder zum Umkehren zwang. Sie öffnete die Haustür und sah Jace vor sich stehen. Er trug einen dunklen Abendanzug und sah so hübsch aus wie ein Märchenprinz.
»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte er. »Aber da standen drei Kühe auf den Geleisen, und deshalb hatte der Zug Verspätung. Und — Nellie, was hast du denn?«
Noch während er das sagte, zog er sie schon in seine Arme, und die Tränen, die sie stundenlang zurückgehalten hatte, strömten nun mit Macht. Jace konnte kaum verstehen, was sie ihm erzählte. Er zog ihren Kopf von seiner Schulter weg und hob mit dem Finger ihr Kinn an. »Was soll das heißen, daß du nicht mit mir zum Ball gehen kannst?«
»Mein Kleid ist ruiniert.«
Er trat einen Schritt zurück, um ihren Rock zu betrachten. »Hatte deine kleine Schwester wieder einmal ihre Hand dabei im Spiel?«
»Terel hatte keine Schuld. Sie mußte husten, und dabei rollten die Murmeln auf den Boden, und ich . . .«
»Ja, ja, ich verstehe.« Er zog sein Taschentuch hervor und wischte damit Nellie die Tränen aus den Augen. »Und jetzt schneuzt du dir die Nase, mein Herzblatt, weil ich eine Überraschung für dich habe.« Er trat zur Seite und gab damit den Blick auf zwei Leute frei, die hinter ihm gestanden hatten — einen Mann und eine Frau. Der Mann war mit Schachteln beladen, und die Frau trug eine kleine Ledertasche bei sich. Nellie blickte Jace fragend an.
»Das ist Houstons Zofe, und sie ist mitgekommen, um deine Haare zu richten.« Er betrachtete die Locken auf Nellies Stirn. »Hat Terel dir die Haare verbrannt?«
»Sie tat es nicht aus Absicht. Sie ist nur etwas ungeschickt mit . . .«
»Und der Mann hat ein paar Kleidungsstücke für dich mitgebracht«, fiel Jace ihr ins Wort.
»Kleidungsstücke? Ich verstehe nicht . . .«
»Geh nach oben und laß dich von Elsie ankleiden. Ich kann dir später alles erklären. Deine Schwester ist doch schon aus dem Haus, nicht wahr? Ich möchte keine Tinte auf diesem Kleid haben, und ich will auch nicht, daß sie dir die Haare vom Kopf sengt.«
»Terel hat mir nicht . . .«
»Hinauf mit dir!« befahl Jace, und Nellie drehte sich gehorsam um und eilte die Treppe in den Oberstock hinauf, gefolgt von den beiden Dienstboten.
Houstons Zofe arbeitete rasch und geschickt und hatte eine ausgezeichnete Hand für Frisuren. »So ein wunderschönes, dichtes Haar«, sagte sie immer wieder, während sie die Locken aufdrehte und mit Nadeln feststeckte. »Und was für eine makellose Haut!«
Nellie spürte, wie sie bei den Komplimenten der Frau errötete. Aber als sie dann das Kleid sah, war sie sprachlos.
»Wir müssen Ihnen das verdorbene Kleid ausziehen und . . .«
»Das kann ich doch unmöglich tragen«, hauchte Nellie. »Das ist viel zu schön für mich.«
Das
Weitere Kostenlose Bücher