Heimliche Wuensche
als daß sie irgend etwas hätte empfinden können. Miss Emily hatte ihr alles wiederholt, was ihr die jungen Damen, die in ihrer Teestube verkehrten, erzählt hatten. Es schien so, daß Jace nicht nur Nellie, sondern auch andere junge Damen in der Stadt regelmäßig besucht hatte. Mindestens fünf Frauen wollten jeden Eid darauf schwören, daß Jace sie geküßt habe. Und Mae Sullivan hatte eine so ausführliche Schilderung von
Mr. Montgomerys Zärtlichkeitsbekundungen gegeben, daß drei junge Damen, die ihr zuhörten, um ein Haar in Ohnmacht gefallen wären.
»Wenn nur ein Mädchen diese Sachen behauptet hätte, würde ich sie ihm ja nicht glauben; aber es scheint so, als habe Mr. Montgomery die halbe Stadt beglückt. Oh, Nellie, es tut mir ja so leid für dich. Ich schmeichle mir, eine gute Menschenkennerin zu sein, und ich war davon überzeugt gewesen, daß dieser Mann ein echter Gentleman sei. Aber anscheinend habe ich mich in diesem Punkt geirrt. Man erzählte mir, er habe nur das Frachtunternehmen deines Vaters haben wollen, und als er es nicht bekam, habe er die Stadt verlassen.« Das wäre nicht der einzige Grund gewesen, weshalb er die Stadt verlassen hatte, hatten die jungen Damen Miss Emily erzählt. Wenn er tatsächlich so verworfen war, wie die Stadt es von ihm behauptete, dann hatte er auch Nellie mißbraucht. Die Zeit würde es an den Tag bringen, ob die Gerüchte stimmten und Nellie mit Mr. Montgomerys Kind schwanger ging. Es hatte keinen Sinn, Nellie noch größere Schmerzen zuzufügen, als sie sowieso schon hatte.
»Ich bin sicher, daß er ein echtes Gefühl für dich hatte«, sagte Miss Emily, Nellie heftig die Hand drückend. »Auch wenn er sich nun als ein niederträchtiger Mensch entpuppt hat, bin ich mir trotzdem sicher, daß er ehrlich in dich verliebt war. Er . . .«
»Ich muß jetzt gehen«, hatte Nellie gesagt und war ohne ein Abschiedswort aus Miss Emilys Wohnung gegangen. Sobald sie auf der Straße stand, lenkte sie den Schritt in die Richtung ihrer Wohnung. Wenn die Leute sie behandelten, als sei sie Luft, bemerkte sie das gar nicht.
Aber sie ging nicht geradewegs nach Hause. Statt dessen hielt sie bei dem Bäckerladen an, trat ein und kaufte dort Schmalzgebäck, Kremtörtchen, Sahnetorten und einen großen, mit Schokolade überzogenen Napfkuchen. Sie ignorierte den neugierigen Blick, den die Verkäuferin ihr zuwarf, nahm die beiden großen Kuchenpakete und verließ den Laden wieder. Sie dachte nicht über ihre Handlungsweise nach. Sie nahm die Kuchenpakete und setzte einfach einen Fuß vor den anderen.
Als sie endlich wieder anhielt, befand sie sich im Fenton-Park — an eben der Stelle auf dem Hügel, wo Jace seinen Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Sie setzte sich auf den Boden, öffnete die Pakete und begann zu essen. Sie hatte keinen Geschmack von den Kuchen, die sie aß und mehr schluckte als kaute, aber sie verzehrte langsam und systematisch das erste Kuchenpaket.
Als das erste Paket leer war, begannen ihr die Tränen zu kommen. Sie weinte nicht richtig: ihr rannen nur die Tränen über die Wangen.
Als sie das zweite Kuchenpaket zur Hälfte leergegessen hatte, war sie so genudelt, daß sie sich der Länge nach im Gras ausstrecken mußte, um den Rest der Schmalzgebäck vertilgen zu können.
Sie sollte also sein Kind unter dem Herzen tragen, dachte sie. Nein, sie war nicht von ihm schwanger. Er hatte sich nicht dazu überwinden können, um das Geschäft ihres Vaters willen sein Spiel mit ihr so weit zu treiben. Er hatte sich lediglich dazu gezwungen, ihr hin und wieder einen Kuß zu geben, sie hier und dort flüchtig anzufassen und ihr einen Haufen Lügen zu erzählen.
Nein, sie ging nicht mit einem Kind von ihm schwanger; aber sie wußte, daß sie eine Frau war. Sie war eine Frau, die von einem Mann mißbraucht worden war — mißbraucht und weggeworfen. Sie dachte daran, wie sehr sie an ihn geglaubt und ihm vertraut hatte. Und als sie daran dachte, daß sie ihm ihre Liebe geschenkt hatte, überwältigte sie wieder der Hunger.
Sie erinnerte sich an die Nacht des Erntedankfestbailes. Miss Emily hatte ihr erzählt, daß Jace in jener Nacht auch Terel geküßt hätte. Und Mae und Louisa ebenfalls. Nellie sah sich wieder neben Jace stehen — »doppelt so breit wie er«, Terels Worten zufolge. Alle Leute in Chandler mußten über sie gelacht haben, als sie mit ihm Walzer tanzte: er so schlank und hübsch, sie so dick und unattraktiv. Jeder in der Stadt mußte sich
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