Heimliche Wuensche
großartig auf ihre Kosten amüsiert haben. Jeder mußte gewußt haben, warum Jace ihr den Hof machte. Jeder wußte es — nur sie, Nellie, nicht. Ihr Vater und Terel hatten versucht, sie zu warnen, aber sie hatte auf die beiden ja nicht hören wollen. Sie hatte sich sogar empört, daß sie diesen Mann besser kennen würde als jeder andere.
Die Sonne war schon fast untergegangen, als sie endlich ihre leeren Kuchenpakete einsammelte und sich auf den Heimweg machte. Sie legte in Randolphs Laden eine Zwischenstation ein und bestellte dort so viele Nahrungsmittel, daß sie damit sechs Familien vier Monate lang hätte ernähren können.
»Bekommen Sie Besuch?« fragte Mr. Randolph; aber Nellie gab ihm keine Antwort. Sie war nicht zum Reden aufgelegt, nicht einmal zum Nachdenken oder zum Weiterleben. Das einzige, was sie empfand, war ein tiefer, unstillbarer Hunger.
Zu Hause beschwerte sich ihr Vater darüber, daß er nicht rechtzeitig sein Dinner bekam, und Terel wollte wissen, wo Nellie gewesen sei. Aber Nellie gab ihr keine Antwort. Sie ging in die Küche und begann zu kochen, und für jedes Gericht, das sie zubereitete und servierte, kochte sie zwei andere, die sie selbst verzehrte. Vielleicht sagten ihr Vater und Terel etwas zu ihr, aber sie hörte ihnen nicht zu. Ihre Gedanken waren vollkommen und ausschließlich von dem Hunger beherrscht, den sie empfand, und wie sie diesen zu stillen vermochte.
Nellie aß drei Wochen lang. Es war ihr egal, was sie aß, wann sie aß oder wieviel sie aß. Es ging ihr nur darum, diesen wahnsinnigen Hunger endlich zu stillen, den sie empfand. Doch gleichgültig, wieviel sie auch verschlang: sie fühlte sich immer noch leer. Es war so, als könnten alle Nahrungsmittel dieser Erde ihren Hunger nicht vertreiben.
Wenn sie in die Speisekammer trat, wo Jace sie geküßt und umarmt hatte, zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Wenn sie aus der Hintertür in den Garten blickte, der nun vom ersten Schnee des Winters bedeckt war, erinnerte sie sich an Jace’ Worte, daß er ihre Blumen liebte, und sofort überkam sie ein Heißhunger nach Kuchen. Wenn sie einen Mann lachen oder sprechen hörte, wurde sie sogleich vom Hunger geplagt, von Hunger überfallen. Ja, es genügte schon, daß sie einen Mann nur sah, und sie mußte etwas essen.
Es war Terel, die als erste bemerkte, daß Nellie abgenommen hatte.
»Das kann nicht sein; denn sie ißt so viel, daß ich demnächst Bankrott anmelden muß«, sagte Charles. »Nellie, die Rechnung unseres Gemischtwarenhändlers für diesen Monat war dreimal so hoch wie die des letzten Monats.«
Nellie gab ihm darauf keine Antwort, aber ihre nächste Bestellung beim Gemischtwarenhändler war sogar noch größer als die vom vergangenen Monat.
»Ich kann nicht zulassen, daß du dich so in der Stadt zeigst«, sagte Charles zu Nellie, als Jace einen Monat fortgeblieben war. »Du siehst ja aus wie eine Vogelscheuche. Geh und besorg dir ein neues Kleid.«
Nellie hatte sich seit Wochen nicht mehr die Mühe gemacht, in einen Spiegel zu blicken; doch nun tat sie es und stellte fest, daß ihr Körper nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst war. Sie konnte ihr Kleid um einen halben Meter seitlich raffen, und es schien noch immer locker zu sitzen. Widerwillig, weil es ihr egal war, was sie anhatte, begab sie sich auf den Weg zu ihrer Schneiderin.
Die Schneiderin warf nur einen Blick auf Nellies bekümmertes Gesicht und sagte kein Wort. Sie hatte natürlich alle Gerüchte, die über Nellie in der Stadt kursierten, vernommen, und Terel hatte ihr erzählt, daß Nellie nichts anderes tat als zu Hause zu sitzen und zu essen, daß sie sich weigerte, das Haus zu verlassen. Und daß Terel Nellies langes Gesicht nicht mehr sehen könne.
Wenn Nellie ständig aß, mußten das winzige Häppchen sein, dachte die Schneiderin, als sie Nellie bis auf die Unterwäsche entkleidete. Sie war erstaunt, daß jemand in so kurzer Zeit so viel abnehmen konnte, wie Nellie das getan hatte. Sie ging in ihren Arbeitsraum, um ihr Zentimetermaß zu holen; aber sie blieb auf dem Weg dorthin stehen und blickte auf eine Auftragsarbeit, die an einem Bügel hinter dem Vorhang hing. Es war ein Winterkostüm, das sie soeben für Mrs. Kane Taggert angefertigt hatte. Es bestand aus dunkelblauem Samt mit Aufschlägen aus Seide in einem etwas helleren Blau, und das herrliche Cape zu diesem Kostüm war aus dem gleichen Satinstoff geschneidert.
Die Schneiderin betrachtete diese Kombination, und da sie
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