Heimspiel
Werte-Orientierung und programmatischer Führung: »Alles wirkt wie Nieselregen auf abgefahrenen Schneepisten. Schon irgendwie Niederschlag, aber echter Schnee sieht anders aus.« Auf Sylt trifft sich schließlich ein »Kreis der knurrigen Konservativen« im Sansibar . Dazu werden fünf Journalisten geladen, es fließt Rheingauer Riesling, der aus dem sandigen Dünenweinkeller kistenweise heraufgeschleppt wird, und es folgen Leitartikel-Betrachtungen aus dem Seelenleben der Partei: »Der Wirtschaftsaufschwung überdeckt vorerst die Tatsache, dass sich die Wirtschaftsliberalen und Wertkonservativen von der Berliner Koalition emotional enttäuscht abgewendet haben«, mahnt die Neue Zürcher Zeitung . »Es mehren sich die Zeichen für die kollektive Implosion politischer Bindung«, assistiert die Wirtschaftswoche . Und schließlich donnert der Tagesthemen -Kommentator des Bayerischen Rundfunks final hinterher: »Längst betrifft die allgemeine Ernüchterung auch die Ästheten und Intellektuellen. Ihre kurz aufflackernde Sehnsucht nach ›neuer Bürgerlichkeit‹ erlischt schon wieder, weil der grauen Sachlichkeit und dem grünen Biedermeier jede auratische Faszination fehlt. Der Stil der Kanzlerin erinnert mehr an Stadtsparkasse denn an Bühnenrausch.«
Der Regierungssprecher ist enttäuscht:
»Die konservative Szene rülpst. Da findet man unsere grüne Zukunft gar nicht gut. Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?«
»Weil ich das gar nicht geplant hatte. Die Sache kam mir spontan wie ein Fallrückzieher.«
»Wie ein Fallrückzieher?« Dem Regierungssprecher schießt durch den Kopf, dass sie inzwischen wohl zu viel Zeit mit Netzer verbringt. Sie ist sich bislang vor allem ihrer Sprache so sicher gewesen, genau das hat ihm seinen Job immer wieder leicht gemacht. Nun aber, mit Fallrückziehern, da bekommt er Sorge.
Sie registriert das sofort:
»Ich mache nur Spaß. Aber ich habe auch Spaß daran, Spaß zu machen.«
Dieser Satz verunsichert ihn noch mehr. Er wechselt das Thema.
»Draußen wartet die Kollegin von der Zeit .«
Auch die Journalistin der Hamburger Wochenzeitung findet Schwarz-Grün »zwingend für die Bionade-Republik«. Sie hat einen Termin bei der Kanzlerin und bereitet ein großes Porträt vor, um das Wahljahr publizistisch einzuläuten. Ein Psychogramm soll es werden, so verkauft sie es in ihrer Redaktion, um mit dem Mittel der Entpolitisierung zu verschleiern, dass sie für die Kanzlerin Sympathie hegt. Sie ist – anders als die meisten ihrer Kolleginnen – keine Linke. Sie verachtet deren kleinbürgerlichen Provinzialismus sogar. Ihr scheint das Linkssein wie eine Marotte alter Tanten, die noch nicht viel von der Welt gesehen haben. Sie aber hat.
Ihr Englisch ist gut, ist amerikanisch. Berlin ist ihr wie New York, wie Shanghai. Sie kommt aus Rosenheim, wo Deutschland aufhört und der Himmel beginnt. Sie selbst hat nie aufgehört zu beginnen. Nicht, als sie bei der Dorfprozession die große Kerze trug und noch in der Kirche zum Hochaltar schritt, bis der Pfarrer sie bremsen wollte, aber nicht konnte. Nicht, als sie auf den Mauern des Klosters ein erstes Mal geküsst wurde, sich dann das knarrende Motorrad des Küssers schnappte und durch die leeren Gassen des Städtchens jagte. Und auch nicht, als ihr Vater sie zum Flughafen nach München fuhr, um sie zum Studium in die USA zu schicken, und sie nicht einmal mehr zum Oktoberfest nach Hause kam.
Sie leitet das Berliner Büro einer großen deutschen Zeitung. Die Chefredaktion soll es werden, schwört sie sich, wenn sie spätabends um 23 Uhr das Bürogebäude in der Friedrichstraße verlässt, um in einer Bar noch einen nächtlichen Absacker zu trinken. Sie hat eine tiefe Stimme, einen festen Schritt und eine fordernde Gestik. Sie trägt französische Kostüme, ohne dass sie französisch aussähen. Sie ist freundlich, aber bestimmt.
Das Liebliche ist ihr abhandengekommen, schon lange, wahrscheinlich schon auf den Straßen von Rosenheim. Sie will nur ein Kind, wenn es die Karriere zulässt, den Mann dazu hat sie noch nicht, aber das wird sich finden, denkt sie in der gleichen Manier, wie sie einen Haushaltsentwurf der Bundesregierung seziert. Sie hat das Selbstbewusstsein eines Fernzugs. Ihre Mutter fragt sie zuweilen am Telefon nach Männern, dann macht sie einen abweisenden Scherz, doch die Mutter hört den Schmerz. Wenn sie aufgelegt hat, fragt sie sich, ob sie nach der Prozession oder nach dem Kuss oder nach dem Flug hätte aufhören sollen
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