Heimstrasse 52
in ihren Armen, weil die Vergangenheit eine Musik ist, die man immer hören kann. Warum sollte sie nicht alles erzählen, warum sollte sie nicht auch teilen und dann für ein paar Stunden unbeschwerter atmen?
Aysel steht auf, um die Teegläser nachzufüllen, Gül holt tief Luft und denkt, dass sie wenigstens von Ceyda erzählen kann, nur das, nimmt sie sich vor, nur das, sonst nichts.
Doch als Aysel wieder sitzt, bemerkt Gül, wie ihre Freundin in ihren Tee blickt, sich sammelt. Sie möchte irgendetwas sagen, und Gül beschließt zu warten. Höre erst mal zu. Gott hat dir zwei Ohren gegeben, aber nur einen Mund, damit du doppelt so viel zuhörst wie sprichst.
Aysel schaut hoch, schiebt eine Strähne von ihrer Stirn unter ihr Kopftuch.
– Gül, sagt sie, Gül, ich werde wohl weggehen von hier. Das ist doch kein Leben. Kein Geld, außer dir habe ich hier |253| keine Freunde, für die Verwandten meines Mannes bin ich tot, was stört es sie, dass er im Knast sitzt. Meine Eltern so alt, meine Geschwister in alle Winde verstreut, was soll ich hier. Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber sieh doch, es hat sich alles verändert, nichts ist mehr wie früher, jeder ist bereit, seinen Nächsten zu verraten für ein paar Lira mehr. Es hat keinen Sinn, hierzubleiben, ich werde gehen. Am Opferfest sind fünf Leute mich besuchen gekommen, fünf insgesamt. Der dreckige Kaufmann Hayri hat mir Fleisch schicken lassen. Fünf Kilo, sogar Koteletts waren dabei. So ist das nun, ich zähle nun zu den Armen, und der Kerl sagt doch zu mir: Dann mach uns doch mal die Koteletts, das kannst du bestimmt besser als meine Frau, da bin ich mir sicher. Du kannst sicherlich auch einiges andere besser. Wann soll ich vorbeikommen? Ich habe viel eingesteckt von ihm, aber ich habe mir in dem Moment gewünscht, Medet wäre da und würde ihm so richtig die Fresse polieren, bis sie glänzt wie eine Juwelierauslage. Dass er hier ist und ihn vermöbelt, dass Hayri sich nicht mehr wiedererkennt, dass er entstellt ist für sein Leben, dieser ekelhafte, lüsterne, dicke Scheißkerl. Benimmt sich, als wüsste seine Frau nicht, wie man die Schenkel öffnet.
Es macht keinen Sinn mehr, Gül, ich krieche hier durch dieses Leben, in dieser Stadt werde ich wohl nie mehr den Kopf erheben können und auf meinen Füßen stehen.
– Zurück nach Deutschland?, fragt Gül, und sie weiß nicht, was sie mehr entsetzt, dass Aysel gehen möchte und ihr hier kein Halt mehr sein wird oder dass der Weg zurück offenstehen könnte, die Vorstellung, dass es dort tatsächlich besser sein könnte als hier.
– Ach was, sagt Aysel, Deutschland. Das Buch habe ich längst zugeschlagen. Dort gibt es auch keinen Segen für mich. Nein, ich werde nach Istanbul gehen.
– Nach Istanbul?
Diese Möglichkeit kommt Gül noch entlegener vor als |254| Deutschland. In eine riesige Stadt, in der man verlorengehen kann. Wo die Straßen so verwinkelt sind, dass Gül sich jeden Tag aufs Neue verlaufen könnte? Wo es Nachtleben, Drogen, leichte Mädchen, Diebe und Gesindel zuhauf gibt? Allein als Frau? In ein Monster aus Beton?
– Nach Istanbul, wirklich? Hast du den Verstand verloren, die Stadt zermalmt einen, ehe man sich versieht. Hast du dort jemanden?
– Nein, sagt Aysel und sieht Gül an mit einem Blick, der klarmacht, dass sie so leicht nicht zu zermalmen ist. Sie hat mehr eingesteckt als Gül, viel mehr, aber sie hat auch mehr Mut. Vielleicht auch nur, weil sie keinen anderen Ausweg sieht.
– Nein, ich habe dort niemanden, aber es ist eine große Stadt, ich werde da schon Arbeit finden. Ich bin ja nicht faul, ich kann putzen gehen, auf Kinder aufpassen, von mir aus wasche ich den ganzen Tag Windeln, das ist mir egal. Istanbul ist groß, es wohnen reiche Leute dort, und wo es viele Reiche gibt, fällt auch etwas für uns ab.
– Istanbul, das ist doch etwas für Stadtmenschen, sagt Gül, aber nicht für uns.
– Ach, Gül, entgegnet Aysel, wie viele Istanbuler sind denn in Istanbul? Du denkst doch an die Sechziger. Heute ist halb Anatolien dort. Manche sind reich geworden, andere müssen buckeln wie wir, aber man muss keine Angst vor dieser Stadt haben, sie gehört langsam uns. Das ist ja nicht wie in Deutschland, wo wir nur wenige waren, Istanbul ist voller Anatolier, Kurden, Lazen, Tscherkessen, was immer du möchtest, nur echte Istanbuler findet man dort kaum noch.
– Wer sagt das?, fragt Gül, erstaunt darüber, dass Aysel so wissend spricht.
– Mecnun sagt das,
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