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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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geschmissen hat, als du ihm gesagt hast, dass Mutter tot ist. Ich habe nur gemalt, was du erzählt hast.
    – Es sieht aus, als wärst du dabei gewesen. Warum … warum kannst du das?
    Sibel zieht nur die Schultern hoch und blickt zu Boden.
    – Du bist eine richtige Künstlerin, sagt Gül. Das wusste ich vorher schon, aber das … das hier … hast du noch mehr davon?
    Sibel nickt.
    Zwei Stunden später sagt Gül:
    – Wenn ich malen könnte, dann würde ich das malen. Aber es ist nicht zu glauben, dass ein Mensch so malen kann. Wie viele Bilder sind das hier?
    Wieder zieht Sibel nur die Schultern hoch.
    – Schwesterherz, willst du die nicht irgendwo ausstellen? Was sollen denn alle diese Bilder hier im Stall? Warum versteckst du sie? Warum hast du sie nicht mal mir gezeigt?, fragt Gül, als sie wieder im Haus sind und in der Küche auf dem Diwan sitzen.
    – Wo soll ich denn ausstellen? Hier im Vorraum der Stadthalle oder im Foyer vom Amt?
    |258| – Wir fragen Nalan, die kennt sich doch aus in Istanbul mit all diesen Sängern und Malern und Künstlern im Nachtleben.
    – Was sollen die Bilder denn in Istanbul? Und was habe ich zu schaffen mit Künstlern und Nachtleben? Ich bin nur eine Grundschullehrerin in einer Kleinstadt.
    – Ich verstehe ja nichts davon, sagt Gül, aber es sind unglaubliche Bilder. Die Landschaften und Tiere sind schon phantastisch, aber diese Bilder aus dem Leben. Mehr Gefühl kann man nicht malen. Das liegt doch bestimmt nicht nur an mir, weil ich so vieles wiedererkenne. Das muss auch für andere Menschen so sein. Das müssen die anderen auch sehen, so gut hast du es gemalt. Das ist das, was bei Fotografien immer fehlt.
    – Warum sollte ich Nalan, diese Istanbuler Dame, die die Nase etwas höher trägt, um einen Gefallen bitten? Warum sollte ich überhaupt irgendjemand hinterherrennen?
    – Schwesterherz, ich wäre stolz auf dich. Wir wären alle stolz auf dich. Du brauchst dich doch nicht zu verstecken. Warum hast du die Bilder überhaupt gemalt? Damit sie im Stall verrotten?
    Sibel hat die Füße so angezogen, dass sie rechts neben ihnen sitzt, und schaut auf einen Punkt irgendwo vor ihren Knien, als würde dort etwas im Überzug des Diwans geschrieben stehen. Es dauert einige Zeit, bis sie etwas sagt. Sie spricht langsam und leise, aber bestimmt.
    – Ich habe sie gemalt, weil ich malen wollte. Und weil ich malen kann. Nicht weil ich möchte, dass irgendjemand mich bewundert oder stolz auf mich ist. Weißt du, ich mag das Malen, ich mag das Gefühl, einen Pinsel in der Hand zu haben und die Farben zu verteilen. An vielen Tagen ist es so, dass ich hinterher noch einmal auf die Leinwand schaue, und ich kann nicht glauben, dass ich das gemalt haben soll. Gott führt nicht meine Hand, so ist es nicht, ich habe viel lernen müssen, aber es passiert eben etwas, das ich nicht verstehe und nicht erklären |259| kann. Es gibt mich nicht mehr, nur noch das Bild und Frieden, und ich stehe nicht dazwischen. Deshalb male ich, nicht weil ich jemand anders etwas zeigen möchte. Oder beweisen. Oder Geld verdienen.
    Weißt du, Aziz kommt manchmal von der Arbeit, und er nimmt sich die Gitarre und spielt. Es ist ihm egal, ob ich zuhöre oder jemand anders oder niemand. Er spielt und singt. Manchmal nimmt er auch die Saz, aber meistens die Gitarre. Er spielt für sich, weil es ihn entspannt und glücklich macht, weil er in der Musik verschwinden kann. So male ich.
    – Aber, setzt Gül an, doch alles, was sie nun sagen könnte, kommt ihr unreif vor, kindsköpfig, als wäre ihre Schwester weise und sie selber ein schnell beleidigtes Blag.
    Ist das die kränkliche, schwächelnde Sibel, um die sie sich früher immer gekümmert hat, das Kind, das ein Jahr vor seiner Zeit eingeschult wurde, weil es jeden Morgen weinte, als alle seine älteren Freundinnen auf einmal zur Schule gingen und es allein ließen? Ist das die stille, schüchterne Sibel, die immer unter Melikes Mutwillen zu leiden hatte?
    Sibel schaut Gül an, die nun einfach nickt, weil ihr keine Einwände mehr einfallen.
    – Es war ja nicht immer so, sagt Sibel, ich habe mir auch Dinge gewünscht und Aziz auch. Glaubst du, er wollte unbedingt in einer Zementfabrik arbeiten? Aber er hat die Musik, das hat ihm geholfen. Glaubst du, ich habe wirklich nie davon geträumt, in Istanbul auszustellen? Oder in New York? Glaubst du, wir beide wollten keine Kinder haben? Alle Menschen träumen und wünschen sich was, aber ich will diese Bilder nicht mehr

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